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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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sich nur nehmen, was er brauchte, und Wege finden, um den nächsten Tag zu überleben. Das Haus seines falschen Vaters suchte er nie mehr auf. Nur noch die Stadt war seine Heimat. Er merkte, dass es sich zwischen Mauern, in Dachwinkeln, in Hinterhöfen, in den Kellern reicher Anwesen und in Fensternischen besser leben ließ, als wenn er eine feste Bleibe gehabt hätte. Er liebte den Geruch von fremden Küchen und Speisekammern in der Nacht und er brauchte diese belebende Unsicherheit – dieses Gefühl, dass sie ihn entdecken könnten –, um einschlafen zu können. Er schlief oft dann, wenn sie gerade wach wurden. Und er lebte auf, wenn die Sonne verschwunden war und sie wie Mehlsäcke in ihren Betten schlummerten. Dann kam er und nahm ihnen, was sie eben noch für das Ihre gehalten hatten. Er nahm es ihnen und brachte es jenen, die ihn dafür bezahlten.
    Diesmal bezahlte ihn die Witwe. Sie zahlte gut, mehr musste er nicht wissen. Nicht, wofür sie das Buch brauchte, nicht, was darin stand. Es mochte dem Guten oder dem Schlechten dienen, es war ihm gleich. Ohnehin wusste er nicht, ob es in dieser Stadt eine solche Unterscheidung gab. Er wusste nur, dass es in diesem Moment aus seiner Sicht ein Gutes gab: das Buch zu stehlen und zu verschwinden. Und es gab das Schlechte: die Wachen.
    Er prüfte die Gassen um sich. Der Lichtkegel verschwand hinter der Ecke. Beide Wachen befanden sich nun auf der anderen Seite des Gebäudes. Für einen kurzen Moment, einen sehr kurzen, war diese Seite unbeobachtet.
    Jetzt. Er blickte unter sich, sah die feuchten Pflastersteine, die er sich als Kissen vorstellte, die Treppe, die sich direkt anschloss. Dann: der übliche Schauer in seinen Gliedern. Er ließ los, fiel, schwebte, spürte das kurze Sausen der Luft in seinen Ohren, einen stechenden Schmerz, als seine Beine ihn abfederten. Er war unten. Fast lautlos. Sein Blick ging nach vorne, nach hinten, dann huschte er weiter zur Treppe, die an der Außenseite zum ersten Stock der Bibliothek führte. Drei, vier Schritte, er war oben vor der Tür, sprang und zog sich hoch auf den Türbogen. Hinter dem kortéssischen Steinlöwen duckte er sich. Der Lichtkegel kehrte zurück. Die Wache bog um die Ecke. Levin atmete schnell, aber entspannt. Der Wächter würde ihn nicht sehen, würde vorbeigehen und glauben, alles habe seine Ordnung. Er würde wenige Meter an dem berüchtigten Mann vorbeiziehen, den sie den Schattensucher nannten und dessen Ergreifung ihn reich machen würde. Doch wer kam gegen die Macht des Schattens an? Aus dem Dunkel heraus konnte man die Welt um sich herum beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Keine von ihren Waffen konnte es mit seinen Schatten aufnehmen.
    Als der Wächter an ihm vorbeigezogen war, richtete Levin sich auf. Wenn er geräuschlos blieb, würden sie ihn nicht bemerken und auch nicht sein Seil, das er aus der Tasche zog und in das er eine Schlinge knotete. Er warf es hoch, es verfing sich in einem Wasserspeier ein Stockwerk höher, er zog und stellte fest, dass es hielt. Mit den Händen arbeitete er sich hoch, mit den Füßen stützte er sich gegen die Wand. In wenigen Sekunden war er oben. Er zog sich am Wasserspeier hoch, packte das Seil wieder ein und kniete neben dem Fenster, das er nun erreicht hatte.
    Es war das zweite Stockwerk. Eine weitere Wache schritt nachts innen den Gang ab, der an den Fenstern vorbeiführte. Jedes Stockwerk war gleich aufgebaut. Der Gang bildete das Quadrat, das sich um den Lesesaal schloss. In drei Himmelsrichtungen führten Türen vom Gang in den Saal, der nur durch künstliches Licht beleuchtet werden konnte. Die Treppe zum jeweils nächsten Stockwerk befand sich ebenfalls im Gang. Tagsüber konnte man die Säle im ersten und zweiten Stock aufsuchen, um sich seinen Studien zu widmen. Der Lesesaal im dritten Stock war stets abgeriegelt, da sich dort die verbotenen Regale befanden. Genau dort stand das Buch, das er zu besorgen hatte.
    Er lugte zum Fenster hinein und wartete, bis der Wächter vorbeimarschierte. Das war schwierig, denn sie befanden sich auf der dunklen Seite des Gebäudes und der Wächter trug keine Laterne. Irgendwann aber hörte Levin die Schritte, das Rasseln des Schlüsselbundes und sah die Umrisse, als der stämmige Kerl am Fenster vorbeiging. Das musste der sein, der kurz vor Schließung der Bibliothek zur Abenddämmerung das Gebäude betreten und die Tür von innen verriegelt hatte. Levin war als Gelehrter verkleidet tagsüber im Lesesaal gewesen und

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