Der Schatz des Dschingis Khan
Muriel besaß ein Buch über Pferderassen, in dem der Rasse der kleinen gedrungenen Pferde eine Doppelseite gewidmet war. Die Tiere ähnelten sehr den Wildpferden, galten als genügsam und ausdauernd und sollten im Gelände besonders trittsicher sein. Im Internet hatte sie irgendwo einmal gelesen, dass es in der Mongolei sogar mehr Pferde als Menschen geben sollte. Das war für sie so faszinierend, dass sie es nicht wieder vergessen hatte. Doch so sehr sie auch überlegte, sie fand keinen einzigen Grund, warum die Schicksalsgöttin sie ausgerechnet in die Mongolei schicken wollte. Abgesehen von den vielen Pferden erschien ihr das Land absolut langweilig – warum sollte sie die Schicksalsgöttin gerade dorthin beordern?
»Du siehst so erstaunt aus.« Die Schicksalsgöttin schaute Muriel aufmerksam an.
»Die Mongolei ist … nicht gerade spannend, oder?«, sagte Muriel. »Viele Pferde. Aber sonst …?«
»Ja, heute ist sie das in deinen Augen vielleicht.« Die Göttin nickte schmunzelnd. »Aber früher war das einmal ganz anders.«
»Wann früher?« Nun wurde Muriel doch neugierig.
»Vor etwa achthundert Jahren. Sagt dir der Name Dschingis Khan etwas?«
»Nein.« Muriel schüttelte den Kopf, stutzte dann aber und korrigierte sich: »Ja, doch. Meine Mutter hat auf einer ihrer CDs ein Lied, das so heißt. Wir haben es auf unserer Silvesterparty mindestens drei Mal angehört.«
»Ein Lied?«
»Ja, so ein Partysong.« Muriel überlegte kurz und zitierte dann: »Der geht ungefähr so: Sie ritten um die Wette mit dem Steppenwind. Tausend Mann – Uh – Ah. Und einer ritt voran, dem folgten alle blind. Dschingis Khan …«
»Nun ja …« Die Göttin lächelte. »Das ist zwar nicht gerade eine historisch fundierte Quelle, beschreibt aber trotzdem ganz gut, wer Dschingis Khan war.«
»Ein König?«
»Ein Fürst der Mongolen.« Die Schicksalsgöttin nickte. »Vielleicht der wichtigste überhaupt. Er war der Erste, dem es gelang, die vielen oft zerstrittenen mongolischen Stämme dauerhaft zu einem Volk zu vereinen. Und mehr noch. Unter seiner Herrschaft als Großkhan gelang es dem Volk aus Hirten, Fischern und Jägern weite Teile Zentralasiens und Nordchinas zu erobern. Ihr Reich erstreckte sich im Osten bis an das Japanische und im Westen bis zum Kaspischen Meer.«
»Das … ist ziemlich groß.« Muriel versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie nicht wirklich eine Vorstellung davon hatte, wie groß das Reich damals gewesen sein mochte. Eine Karte, wie sie im Geschichtsunterricht verwendet wurde, wäre hilfreich gewesen, aber so etwas gab es hier sicher nicht.
»Es war riesig«, stimmte die Göttin ihr zu. »Wenn man bedenkt, wie lange es damals dauerte, einen Befehl oder eine Botschaft von einem Ende des Reiches bis zum anderen zu bringen, erscheint es geradezu unglaublich, dass die Stämme sich nicht gegen ihren Großkhan auflehnten und das Reich wieder in kleine Stammesgebiete zerfiel.«
»Die Mongolen haben doch schnelle Pferde«, bemerkte Muriel.
»Das stimmt, aber das war nicht der Grund dafür, dass alle Mongolen Dschingis Khan so bedingungslos folgten.«
»Nicht? Was dann?«
»Magie!«
»Magie?« Muriel zog die Stirn kraus. »Aber die gibt es in meiner Welt doch gar nicht.«
»Nein, eigentlich gibt es sie nicht«, räumte die Göttin ein. »Und in deiner Zeit schon gar nicht. Aber weißt du, manchmal gab und gibt es sie eben doch.« Sie zwinkerte Muriel zu. »Auch Ascalon trägt Magie in sich, sonst könnte er dich nicht durch die Zeit tragen. Magie, die ich ihm geschenkt habe. Und es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass wir Götter uns so einen kleinen Eingriff erlaubt haben. Wenn es meinen Brüdern und Schwestern gefiel, beschenkten sie einige wenige auserwählte Menschen mit magischen Artefakten, um zu sehen, wie es sich auf die Entwicklung der Menschheit auswirkte. Es mag in deinen Ohren vielleicht empörend klingen, aber es gab Zeiten, in denen wir mit euch ein wenig experimentiert haben. Die Menschheit war noch jung und wir waren neugierig. Wir wollten herausfinden, wie ihr euch verhaltet, wenn dieses oder jenes Ereignis eintritt oder wenn wir einigen von euch ein wenig mehr Macht geben als anderen. Was auch immer geschah, jedes Mal gab es Gewinner und Verlierer, und manchmal wurden in diesen Hallen sogar Wetten darüber abgeschossen, ob ein Volk untergehen oder überleben würde.«
»Ist das fies.« Muriel konnte nicht glauben, was sie da hörte. »Da können wir ja echt
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