Der Schatz des Dschingis Khan
einen dumpfen, fast lautlosen Galopp.
Muriel schaute auf. Vor ihr lag die Lichtung.
So schnell schon? Tief in Gedanken versunken, hatte sie gar nicht mitbekommen, dass sie schon so weit geritten waren. Muriel spürte, wie sich trotz ihrer Ängste ein Gefühl des »Nach-Hause-Kommens« in ihr ausbreitete, als Ascalon aus dem Wald trat und über die von wogenden Nebelschleiern verhüllte Wiese auf die kleine Hütte zuritt, die mitten auf der Lichtung stand. Der Anblick der erleuchteten Fenster war Muriel inzwischen ebenso vertraut wie die helle Rauchfahne, die aus dem windschiefen Schornstein in das graue Zwielicht aufstieg.
Es war wie immer und doch anders. Bei ihrem ersten Besuch hatte sie sich gefürchtet, beim zweiten Ehrfurcht empfunden. Beide Male war sie sehr aufgeregt gewesen. An ihren dritten Besuch hingegen erinnerte sie sich nur ungern, weil sie den Zorn der Göttin zu spüren bekommen hatte.
Diesmal empfand sie weder Furcht noch Ehrfurcht und auch nicht die Anspannung, von denen ihre Besuche stets geprägt gewesen waren. Es schien, als habe die verwunschene Welt, die außer ihr kein anderer Mensch betreten konnte, ihren anfänglichen Zauber verloren. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war sie zu einem Teil ihrer Realität geworden, so wie sie Ascalon mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten inzwischen auch nicht mehr als etwas Besonderes ansah.
Ganz unvermittelt erinnerte sich Muriel an einen Fernsehbericht über einen Astronauten, der schon zum vierten Mal auf der Raumstation ISS gearbeitet und Ähnliches berichtet hatte. Auch er hatte dem erstaunten Journalisten versichert, dass der unglaublichste und wohl außergewöhnlichste Arbeitsplatz der Welt für ihn eigentlich nichts Besonderes mehr war. Der Flug dorthin und die Arbeit im Weltraum waren für ihn schon fast zur Routine geworden. Damals hatte Muriel das nicht verstehen können, doch jetzt wusste sie, wie er es gemeint hatte. Im Kleinen ließ es sich vielleicht mit dem absolut unwiderstehlichen Erdbeereis vergleichen, das Teresa im Sommer manchmal selbst herstellte. Zuerst konnten alle nicht genug davon bekommen und schlugen sich die Bäuche voll, aber wenn man es dann drei Tage hintereinander gegessen hatte, war der Heißhunger darauf plötzlich verflogen.
Ein ganz klein wenig Herzklopfen hatte sie aber dennoch, als Ascalon vor der Tür der Hütte stehen blieb und diese, wie von Geisterhand, vollkommen lautlos aufschwang. Muriel betrat die baufällige Hütte und fand sich in einem kuppelförmigen aus kostbarem Marmor und glänzenden Fliesen errichteten Innenraum wieder, der so groß war, dass er eigentlich unmöglich Teil der winzigen Hütte sein konnte. Aber auch hier wollte sich das ehrfürchtige Erstaunen nicht einstellen, das Muriel sonst immer verspürt hatte. Dies war das Heim der Schicksalsgöttin. Sie hatte gewusst, was sie erwartete und nahm es als selbstverständlich hin.
»Muriel … endlich!« Ungeduld schwang in der Stimme der Schicksalsgöttin mit, als sie Muriel erblickte und auf sie zukam. »Ich warte schon auf dich.«
»Tut mit leid, ich wurde aufgehalten.« Muriel fragte sich im Stillen, wie es möglich sein konnte, an einem Ort, an dem die Zeit keine Macht hatte, auf etwas zu warten.
In wenigen knappen Sätzen erzählte sie von Fannys Rettung. »Aber das wissen Sie ja sicher alles schon. Ich bin gekommen, so schnell ich konnte«, sagte sie abschließend, schaute die Göttin an, lächelte und fragte: »Also, wo brennt es diesmal?«
Die Schicksalsgöttin ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie führte Muriel wieder zu den Korbstühlen am Kamin, deutete auf einen davon und sagte dann: »In der Mongolei*.«
»In der Mongolei?« Muriel runzelte die Stirn. Dass die Göttin so direkt antwortete, war ungewöhnlich. Sie schien es wirklich eilig zu haben. Während sie es sich in dem Korbstuhl bequem machte, versuchte Muriel in aller Eile abzurufen, was sie über die Mongolei wusste. Das Bild eines kargen und hügeligen Landes erschien vor ihrem geistigen Auge. Eine baumlose Steppe, so weit das Auge reichte. Das Wort »Jurte« kam ihr in den Sinn und sie glaubte sich zu erinnern, dass so die runden Häuser der Mongolen genannt wurden. Nadine hatte vor Kurzem behauptet, dass die Mongolen im Winter die Fohlen ihrer Pferde mit in die Hütten nahmen, um sie vor der eisigen Kälte zu schützen.
Viel mehr wusste sie allerdings nicht über das Land und die Leute, die dort lebten – nur über die Pferde war ihr noch ein wenig mehr bekannt.
Weitere Kostenlose Bücher