Der Schatz von Blackhope Hall
vorbeizuschieben oder ihn an seinen Beinen hinabzuzerren. Vorhin hatte ein Schwert seine Wade getroffen – glücklicherweise mit flacher Klinge. Durch das dicke Leder seines Stiefels spürte er den Schmerz. Doch er war nicht verletzt. Mehrere Gegner hatte er verwundet, mit einem gezielten Schwerthieb ein Kinn gespalten, eine Hand abgehackt.
Hinter ihm hatte Lady Alys einen Mann mit ihrem Feuerhaken niedergeschlagen. Wie ein gefällter Stier war er in die Halle hinabgestürzt. Bedauerlicherweise hatte sie bei diesem Angriff den Feuerhaken verloren.
Immer schwerer fühlte sich sein Arm an. Trotzdem würde er unermüdlich kämpfen, bis er blutete und auf den Knien lag – obwohl er ahnte, dass sie verloren waren. Eine andere Hoffnung gab es nicht.
Abrupt öffnete Stephen die Augen, richtete sich auf und rang nach Atem. Sein Haar klebte schweißnass am Kopf. In seinem Arm spürte er immer noch stechende Schmerzen, seine Augen brannten vom ätzenden Qualm.
"Verdammt", flüsterte er, "was zum Teufel war denn das?"
2. Kapitel
Erbost lehnte sich Olivia Moreland in die bequeme Polsterung ihrer Kutsche zurück. Was für ein unverschämter Mann …
"Die verrückten Morelands!" flüsterte sie. "Also wirklich!"
Diese Worte hatte sie ihr Leben lang gehört, und sie ärgerte sich maßlos darüber. Natürlich war ihre Familie kein bisschen verrückt – aber die restliche englische Oberschicht engstirnig, rückständig und versnobt.
Nun, vielleicht haben sich meine Großeltern etwas seltsam benommen, gab Olivia zu, um fair zu bleiben. Ihr Großvater war ganz versessen auf groteske Heilkuren gewesen. Und Grandmama hatte behauptet, sie besitze das "zweite Gesicht". Aber ihr Vater interessierte sich einfach nur für die Antike. Und ihr scheuer, liebenswerter Großonkel Bellard liebte die Geschichte und hielt sich von Fremden fern. War das etwa sonderbar? Ebenso wenig durfte man Tante Penelope verrückt nennen, nur weil sie nach Frankreich gezogen war, um auf der Opernbühne zu stehen. Damit hatte sie die Londoner Gesellschaft genauso schockiert, als wäre sie in eine Strafkolonie geschickt worden.
Wie Olivia längst erkannt hatte, lag das Problem darin, dass sich die Morelands in ihrer Denkund Handelsweise von der übrigen Aristokratie unterschieden. Nach deren Ansicht war es die schlimmste Sünde ihrer Mutter, dem Landstatt dem Hochadel zu entstammen. Sicher wurde sie einfach nur beneidet, weil sie, die als kleiner Niemand in der Gesellschaft galt, einen heiß begehrten Junggesellen, den Duke of Broughton, erobert hatte, was keiner der vornehmen Debütantinnen gelungen war. Olivia fand die Liebesgeschichte ihrer Eltern sehr romantisch, insbesondere die erste Begegnung.
Zu den zahlreichen Unternehmen ihres Vaters gehörte eine Fabrik. Ihre Mutter, eine engagierte Sozialreformerin, war in eine Besprechung zwischen dem Duke und dem Fabrikleiter hineingeplatzt. Irgendwie hatte sie es geschafft, an den Angestellten im Vorraum vorbeizulaufen. Temperamentvoll wies sie Moreland auf die schreiende Ungerechtigkeit hin, mit der seine Arbeiter behandelt wurden. Der Fabrikleiter wollte sie hinauswerfen, aber der Duke hinderte ihn daran und hörte ihr zu. Am Ende des Nachmittags erfüllte das Leid der Arbeiter auch ihn mit glühendem Zorn. Noch leidenschaftlicher verliebte er sich in die schöne rothaarige Reformerin. Diese Gefühle erwiderte sie trotz ihrer heftigen Abneigung gegen die Aristokratie, Macht und Geld. Zwei Monate später hatten die beiden geheiratet, zum Entsetzen der Dowager Duchess und fast des gesamten britischen Hochadels.
Olivias Mutter vertrat einen entschiedenen Standpunkt, der nicht nur die Rolle der Frauen in der Gesellschaft betraf, sondern auch die Kindererziehung. Unter ihrer Aufsicht waren alle ihre sieben Kinder von Hauslehrern ausgebildet worden, die Mädchen ebenso wie die Jungen. Jedes Kind durfte seine speziellen Interessen verfolgen. Allerdings hatte der Vater auch auf grundlegende Kenntnisse in Griechisch, Latein und der Geschichte des Altertums bestanden.
Und so verfügten alle über ein umfangreiches Wissen und einen unabhängigen Geist. Aus diesem Grund wurden sie von der vornehmen Gesellschaft für seltsam gehalten. Ohne deren Missbilligung zu beachten, ging jeder seinen eigenen Weg. Theo, der Erbe des Duke, befriedigte seinen Forschungsdrang, während sich seine Zwillingsschwester Thisbe den Naturwissenschaften widmete, Experimente durchführte und Abhandlungen darüber schrieb. Wie
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