Der Schatz von Blackhope Hall
und ihr Haar lose herabhing, rannte sie aus dem Zimmer. Entlang des Flurs öffneten sich mehrere Türen, aufgeregte Leute traten heraus.
Wenige Schritte vor Olivia stürmte Stephen zur Treppe, und sie folgte ihm in die Halle hinab. Da er den Landsitz besser kannte als sie, blieb sie ihm auf den Fersen und raffte den langen Rock ihres Morgenmantels, damit sie schneller laufen konnte.
Durch die Hintertür verließen sie das Haus, und Stephen steuerte den Weg an, auf dem die vermummte Gestalt entlanggewandert war. Olivia stieß mit ihren Zehen an die scharfe Kante einer Steinplatte und stöhnte leise auf. Doch sie eilte unbeirrt hinter Stephen her, und sie stiegen die Stufen hinab, zu jenem Teil des Gartens, wo sie den "Mönch" zuletzt gesehen hatten.
Wie erwartet, ließ er sich nirgends blicken. Inzwischen war es noch dunkler geworden.
"Verdammt!" rief Stephen. "In dieser Finsternis werden wir ihn niemals fangen. Er könnte sich überall verstecken." Ärgerlich drehte er sich um.
Erst jetzt schaute er Olivia an und bemerkte ihren derangierten Zustand. Während der Verfolgungsjagd hatte sich der Gürtel ihres Morgenmantels gelöst, der ihr spitzenbesetztes Unterhemd entblößte. Hastig verknotete sie den Gürtel und erklärte möglichst würdevoll: "Gerade wollte ich mich für das Dinner anziehen." Mit einer bebenden Hand strich sie sich das wirre Haar aus dem Gesicht.
Stephen musterte die dichten braunen Locken, die bis zu ihren Hüften reichten. Es dauerte eine Weile, bevor er mit belegter Stimme antwortete: "Ja, natürlich."
"Miss Olivia!" Verwirrt wandten sie sich zu Tom um, der auf sie zurannte, in jeder Hand eine Laterne.
"Oh Tom", seufzte Olivia dankbar. "Dem Himmel sei Dank, Sie haben daran gedacht, Lampen mitzubringen."
"Klar, weil's finster ist", bestätigte er und reichte dem Earl eine der Laternen.
"Sehr gut", murmelte Stephen. "Mal sehen, ob wir das Gespenst irgendwo entdecken."
Um möglichst viel Licht zu verbreiten, hielt Tom die Laterne hoch und guckte sich im tiefer gelegenen Garten um. Dann wandte er sich nach rechts. Stephen und Olivia schlugen die andere Richtung ein. Den Rock des Morgenmantels wieder gerafft, spähte sie aufmerksam nach allen Seiten. Gemeinsam durchsuchten sie die ganze westliche Hälfte des Gartens, jeden einzelnen Weg. Hin und wieder trafen sie Tom, der den östlichen Teil erkundete. Am Ende des Gartens blieben sie alle stehen. Dahinter lag ein Wäldchen, an das eine Wiese grenzte. Der "Mönch" war spurlos verschwunden, was niemanden überraschte.
"Leider ist es hoffnungslos", meinte Stephen erbost. "Eine schwarz gekleidete Gestalt in nächtlichen Schatten aufzuspüren …"
"Außerdem hatte er genug Zeit, um zu fliehen, bevor wir alle aus dem Haus liefen", ergänzte Olivia.
"Das weiß ich", seufzte Stephen. "Gehen wir wieder hinein. Morgen sollten wir uns noch einmal umschauen. Vielleicht finden wir im Tageslicht irgendwelche Fußabdrücke."
In der Halle trafen sie die anderen an, die sich aufgeregt am Fuß der Treppe versammelt hatten.
"Oh Stephen!" Lady St. Leger eilte ihrem Sohn entgegen. "Hast du ihn gesehen?"
"Noch nie im Leben hatte ich solche Angst", gestand Belinda und umklammerte den Arm ihres Bruders. Ihr bleiches Gesicht bestätigte diese Worte. Aber aus den blaugrauen Augen leuchtete auch die unverhohlene Neugier eines jungen Mädchens. "Was war das?"
"Vermutlich hat sich jemand als Mönch verkleidet", erwiderte Stephen. "Als wir die Stelle erreichten, wo er sich zuletzt gezeigt hatte, war er längst über alle Berge."
Lady Eleanor trug immer noch ihren Morgenmantel. Aber Belinda und Pamela waren bereits für das Dinner angekleidet. Wie üblich strahlend schön in grauer Seide und Spitze, warf Pamela einen verächtlichen Blick auf Olivias unschickliche äußere Erscheinung.
Verlegen starrte Olivia auf ihren Morgenmantel hinab. Obwohl sie den Rock gerafft hatte, war der Saum schmutzig geworden, eine Rüsche des Unterrocks hatte sich gelöst und lag, mit dunklem Erdreich befleckt, am Boden.
"War denn überhaupt jemand im Garten, Stephen?" fragte Pamela spöttisch. "Mein Zimmer liegt an der anderen Seite. Also konnte ich den 'Geist' nicht beobachten."
"Natürlich war er das!" fauchte Belinda. "Nur weil du ihn nicht gesehen hast …"
"Schon gut, Belinda." Beruhigend legte Stephen ihr eine Hand auf die Schulter und wandte sich Pamela zu. "Ja, ich habe ihn deutlich gesehen. Da draußen trieb irgendjemand seine Possen, obwohl ich mir sicher bin
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