Der Schatz von Blackhope Hall
dasselbe, was ein Gentleman tat und was er von einer Dame erwartete.
Natürlich unterschied sich Stephen von anderen Männern. Sie konnte unbefangen mit ihm reden, und er nahm kein Blatt vor den Mund. Auf jene belanglose Konversation, die in der Londoner Oberschicht so beliebt war und deren Regeln Olivia nur mangelhaft beherrschte, legte er keinen Wert. Er unterhielt sich auch nicht mit ihr, als sei sie begriffsstutzig. Ebenso wenig verschwendete er ihre Zeit mit blumigen Komplimenten und bedeutungslosem Süßholzgeraspel. Außerdem – wenn sie jetzt darüber nachdachte – war er manchmal ziemlich unhöflich gewesen. Einen solchen Mann konnte sie nicht als raffinierten Verführer bezeichnen. Und es würde ihr schwer fallen, Pamelas Warnung ernst zu nehmen, andererseits – würde eine so schöne Frau zugeben, sie sei sitzen gelassen worden, wenn es nicht der Wahrheit entspräche?
Die Stirn gerunzelt, schlenderte sie dahin und wünschte, sie wüsste in Herzensangelegenheiten besser Bescheid. Zweifellos würde Kyria merken, ob Stephen ein Schürzenjäger war, und genau wissen, wie sich eine Frau verhalten musste, wenn er sie küsste. So wie er mich geküsst hat, dachte Olivia. Lächelnd fragte sie sich, ob es ein Mann jemals gewagt hatte, ihre Schwester einfach in die Arme zu reißen. Inbrünstig wünschte sie, Kyria wäre hier und würde ihr Ratschläge erteilen.
"Olivia!" Zu ihrer Rechten erklang ein Ruf, und sie wandte sich Belinda zu, die am anderen Ende des Weges stand und ihr zuwinkte. Dann kam sie zu ihr.
"Wie erstaunlich, dass an diesem trüben Tag noch jemand außer mir spazieren geht …", meinte Olivia.
"Dieses Wetter genieße ich in vollen Zügen", erwiderte das Mädchen und lachte fröhlich. "Denn es kündigt den Herbst an, und in dieser Jahreszeit gefällt mir Blackhope am besten. Abgesehen vom Frühling, den finde ich eigentlich noch schöner."
"Lieben Sie Ihr Zuhause?"
"Oh ja, sogar sehr. Wann immer ich in dieser Saison einen Mann kennen lernte, fragte ich mich – würde ich Blackhope seinetwegen verlassen? Offen gestanden, das konnte ich kein einziges Mal bejahen."
"Eines Tages werden Sie dem Richtigen begegnen."
"Vielleicht." Belinda zuckte mit den Schultern.
"Also hatten Sie nie das Gefühl, in Blackhope würden sich verlorene Seelen versammeln?" scherzte Olivia.
Seufzend schnitt das Mädchen eine Grimasse. "Nein, wirklich nicht. Gewiss, die Séancen amüsieren mich, aber was Madame Valenskaya treibt, nehme ich nicht für bare Münze."
"Ich verstehe."
"An diese Geister glauben Sie doch auch nicht, oder? Das habe ich Ihnen angesehen, obwohl Sie so höflich waren, Ihre Ansichten zu verschweigen."
"Nun, ich finde es eher unwahrscheinlich, dass Madame Valenskaya den Geist Ihres toten Bruders heraufbeschwören kann."
"Sehr gut, denn Stephen glaubt auch nicht daran. Niemals würde er eine Frau umwerben, die sich von Geistesgeschichten beeindrucken lässt. Die würde er furchtbar albern finden. Und er ärgert sich ganz wahnsinnig über Madame Valenskaya. Diese Frau duldet er nur in seinem Haus, weil die Séancen unserer Mutter so viel bedeuten. Das haben Sie sicher schon bemerkt, Olivia."
"Allerdings. Aber Belinda, Sie dürfen nicht glauben, Stephen – ich meine, Lord St. Leger – würde mich umwerben."
Belinda kicherte. "Warum streiten Sie es ab? Stephen ist bis über beide Ohren in Sie verliebt. Das weiß ich, denn ich habe gesehen, wie er sie anschaut, wenn er glaubt, niemand würde es merken."
Trotz der Kälte erhitzten sich Olivias Wangen. "Da müssen Sie sich irren, Lord St. Leger und ich sind … wir sind …"
Was waren sie denn? Was sich an diesem Vormittag im Arbeitszimmer ereignet hatte, konnte man wohl kaum ein "freundschaftliches" Beisammensein nennen. Aber sie bezweifelte, dass sich Stephen ernsthaft für sie interessierte – was Belinda offenbar annahm. Olivia hielt sich nur in Blackhope auf, um ihm zu helfen, eine betrügerische Bande zu entlarven. Das war alles … Natürlich abgesehen von jenen Küssen.
"Belinda …", begann sie zögernd. Wenn es ihr auch widerstrebte, Stephens Schwester auszuhorchen – dieser Frage musste sie einfach nachgehen. "Wissen Sie irgendetwas über Lady Pamela und Ihren Bruder?"
"Oh, das habe ich schon vor langer Zeit gehört. Während es passiert ist, war ich noch ein Kind und hatte keine Ahnung. Aber später belauschte ich die Dienstboten. Und Stephens Kammerdiener wusste besser Bescheid als Mama und alle anderen."
"Gestern erzählte
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