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Der Schatz von Franchard

Titel: Der Schatz von Franchard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Louis Stevenson
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Landstraße schicken.«
    »Das wirst du niemals tun, wenn es erst soweit ist,« sagte seine Frau; »ich kenne dein gutes Herz.«
    Sie streckte ihm mit einem Seufzer die Hand entgegen; der Doktor lächelte, als er sie ergriff und an die Lippen führte. Der Sieg war ihm leichter geworden, als er zu hoffen gewagt hatte. Wohl zum zwanzigsten Malehatte er die Wirksamkeit seines zuverlässigsten Gegenmittels erprobt, seines guten Schwerts Excalibur: die Rückkehr nach Paris. Ein sechsmonatiger Aufenthalt in der Hauptstadt bedeutete für einen Mann mit den Antezedenzien und Beziehungen Doktor Desprez' keine geringere Kalamität als den absoluten Ruin. Anastasie hatte die Reste seines Vermögens dadurch gerettet, daß sie ihn fest auf dem Lande angekettet hielt. Schon das Wort Paris genügte, um sie in Heidenangst zu versetzen. Lieber hätte sie ihrem Manne gestattet, sich hinten im Garten eine ganze Menagerie zu halten, von einem simplen Stalljungen ganz zu schweigen, als auch nur die Frage der Rückkehr aufs Tapet zu bringen.
    Ungefähr um vier Uhr nachmittags gab der Gaukler seinen Geist auf; seit dem Anfall hatte er das Bewußtsein nicht wieder erlangt. Doktor Desprez wohnte seiner letzten Reise bei und erklärte die Farce für beendet. Darauf nahm er Jean-Marie bei der Schulter und führte ihn in den Garten des Gasthofs, wo neben dem Fluß eine bequeme Bank stand. Hier setzte er sich hin und hieß den Jungen sich zu seiner Linken niederlassen.
    »Jean-Marie,« sagte er sehr ernsthaft, »diese Welt ist ungeheuer groß, und selbst Frankreich, das nur ein Zipfelchen von ihr darstellt, ist für einen kleinen Jungen wie dich ein weites Land. Unglücklicherweise steckt es voll eifriger, vorwärtsstrebender Menschen; und im Vergleich zu so vielen Mäulern sind die Bäckerläden nur recht dünn gesät. Dein Herr ist tot; du bist nicht imstande, dir selbst dein Brot zu verdienen; duwillst doch auch nicht stehlen? Nein. Deine Lage ist also unerfreulich? Ja, im Augenblick sogar kritisch. Andererseits siehst du in mir einen zwar nicht alten, aber ältlichen Mann, der sich immer noch der Jugend seines Herzens erfreut; ein Mann der Bildung, der in weltlicher Hinsicht bequem situiert ist und eine gute Tafel führt: kurz, ein Mann, der weder als Freund noch als Wirt zu verachten ist. Ich biete dir Nahrung und Kleidung an und will dich abends unterrichten, was bei einem Jungen mit deinen Anlagen unendlich viel besser anschlagen wird, als wenn sämtliche Priester Europas es täten. Ich schlage dir keinerlei Lohn vor, sollte dir jedoch jemals der Gedanke kommen, mich zu verlassen, so wirst du die Tür offen finden, und ich werde dir zu deinem Eintritt in die Welt hundert Franken schenken. Dagegen habe ich ein altes Pferd mit Chaise, das sauber und in Ordnung zu halten du sehr rasch, erlernen würdest. Beeile dich ja nicht, zu antworten, nimm an oder lehne ab, ganz wie du es für richtig hältst. Vergiß nur nicht, daß ich kein sentimentaler oder wohltätiger Mensch bin, und daß, wenn ich dir diesen Vorschlag mache, ich meinen eigenen Zweck dabei verfolge – weil ich nämlich meinen Vorteil dabei ganz klar ins Auge gefaßt habe. Und jetzt überlege es dir.«
    »Ich werde mich sehr freuen. Ich wüßte gar nicht, was ich sonst anfangen sollte. Ich danke Ihnen von Herzen, Herr, und werde versuchen, mich nützlich zu machen,« sagte der Junge.
    »Danke,« sagte der Doktor warm, indem er sich erhob und sich die Stirn trocknete, denn er hatte Qualenausgestanden, solange die Sache in der Schwebe war. Eine Weigerung hätte ihn nach der Szene am Mittag mit Anastasie lächerlich gemacht. »Wie heiß und schwül der Abend ist, findest du nicht auch? Ich habe von jeher gewünscht, im Sommer ein Fisch zu sein hier in der Loing bei Gretz, Jean-Marie. Dann würde ich mich unter einer Seerose verstecken und den Glocken zuhören, die von da unten ganz wunderbar zart klingen müssen. Das wäre noch ein Leben – meinst du nicht auch?«
    »Ja,« sagte Jean-Marie.
    »Gott sei Dank, du hast Phantasie,« rief der Doktor und umarmte den Jungen mit der ihm eigenen überströmenden Herzlichkeit, obwohl die Prozedur den Leidtragenden fast ebensosehr aus der Fassung brachte wie einen gleichaltrigen englischen Schulbuben. »Und jetzt,« fügte er hinzu, »will ich dich zu meiner Frau bringen.«
    Madame Desprez saß in einem kühlen Morgenrock im Eßzimmer. Alle Läden waren heruntergelassen und die mit Kacheln ausgelegte Diele erst vor kurzem mit Wasser bespritzt.

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