Der Schatz von Franchard
Sie hielt die Augen halb geschlossen, obwohl sie bei dem Eintritt der beiden vorgab, einen Roman zu lesen. Trotz ihrer Rührigkeit liebte sie es doch, sich von Zeit zu Zeit auszuruhen, und besaß einen ganz außergewöhnlichen Appetit für Schlaf.
Der Doktor entledigte sich einer feierlichen Vorstellungszeremonie, an deren Schluß er im Hinblick auf beide Teile hinzufügte: »Ihr müßt um meinetwillen versuchen, einander gern zu haben.«
»Er ist sehr hübsch.,« sagte Anastasie. »Willst du mir nicht einen Kuß geben, mein hübsches Kerlchen?«
Der Doktor war wütend und zerrte sie in den Gang hinaus. »Bist du verrückt, Anastasie?« fragte er. »Wo bleibt da der berühmte weibliche Takt? Weiß der Himmel, ich bin ihm noch nie begegnet. Du sprichst mit meinem kleinen Philosophen, als hättest du einen Säugling vor dir. Bitte ihn mit mehr Respekt anzureden; er darf nicht geküßt und eia-popeiat werden wie irgend ein x-beliebiges Kind.«
»Ich hab's doch nur dir zu Gefallen getan, das kannst du mir glauben,« entgegnete Anastasie; »aber ich will mir Mühe geben, es besser zu machen.«
Der Doktor entschuldigte sich wegen seines Eifers. »Weißt du, ich möchte wirklich, daß er sich bei uns zu Hause fühlt,« fuhr er fort. »Und dein Benehmen, meine Teuerste, war tatsächlich so blöde, so gänzlich, so hoffnungslos deplaciert, daß man selbst einem Heiligen einen etwas gar zu heftigen Tadel nicht hätte verargen können. Bitte, bitte, versuche doch, ob nicht auch eine Frau junge Leute zu verstehen vermag – aber das ist natürlich unmöglich – ich hätte ebensogut meine Worte sparen können. So halte wenigstens den Mund und beobachte auf das genaueste mein Verhalten. Es mag dir als Vorbild dienen.«
Anastasie tat, wie ihr geheißen war, und beobachtete des Doktors Verhalten. Sie bemerkte, daß er den Jungen im Laufe des Abends dreimal umarmte und es erreichte, den kleinen Kerl im allgemeinen so verwirrt und schüchtern zu machen, daß er weder zu essen noch zu sprechen vermochte. Allein sie besaß inden kleinen Dingen des Lebens einen echt weiblichen Heroismus. Sie verzichtete nicht nur darauf, an dem Doktor eine billige Rache zu nehmen, indem sie ihm seine Mißgriffe vorhielt, sondern tat noch ihr möglichstes, um deren nachteilige Wirkung auf Jean-Marie aufzuheben. Als Desprez ausging, um vor dem Schlafen ein letztes Mal frische Luft zu schöpfen, ging sie zu dem Jungen hin und nahm ihn bei der Hand.
»Du darfst dich über meines Mannes Art nicht wundern, und mußt auch keine Angst vor ihm haben,« sagte sie. »Er ist der gütigste aller Menschen, aber so klug, daß er manchmal schwer zu verstehen ist. Du wirst dich bald an ihn gewöhnt haben, und dann wirst du ihn liebgewinnen, denn man kann ja gar nicht anders. Was mich betrifft, so kannst du sicher sein, daß ich mein möglichstes tun werde, dich glücklich zu machen, und daß ich dich gar nicht quälen werde. Ich glaube, wir sollten ausgezeichnete Freunde sein, du und ich. Ich bin nicht klug, aber sehr gutmütig. Willst du mir nicht einen Kuß geben?«
Er hielt ihr sein Gesicht hin, und sie nahm ihn in ihre Arme und fing an zu weinen. Sie hatte als Frau in ihrer Gutmütigkeit gesprochen, hatte sich an ihren eigenen Worten erwärmt, und Zärtlichkeit war die Folge. Als der Doktor eintrat, fand er sie innig umschlungen: er schloß daraus, daß seine Frau wiederum einen Fehler begangen hatte, und wollte eben mit fürchterlicher Stimme anfangen: »Anastasie –,« als sie ihn lächelnd ansah und ihm mit dem Finger drohte. Darauf schwieg er erstaunt, während sie den Jungen in seine Dachkammer führte.
Viertes Kapitel: Die Erziehung zum Philosophen
Der adoptierte Stalljunge war somit glücklich in den Haushalt aufgenommen, und das Getriebe des Lebens im Doktorhause setzte seinen Lauf reibungslos fort. Jean-Marie lag am Morgen seinen Stallpflichten ob, half mitunter im Hause, oder ging auch wohl mit dem Doktor spazieren, um aus der Quelle der Weisheit zu schöpfen; abends wurde er dann in die Wissenschaften und in die toten Sprachen eingeführt. Hierbei behielt er die außergewöhnliche innere und äußere Gelassenheit seines Wesens bei; er war selten zu tadeln, machte hingegen in seinen Studien nur recht mäßige Fortschritte und blieb im großen und ganzen ein Fremder in der Familie.
Der Doktor war ein Muster an Gewissenhaftigkeit. Den ganzen Vormittag arbeitete er an seinem großen Werke: »Vergleichende Pharmacopoea, oder historisches Diktionär
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