Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Josefine schon öfter besucht, also war ihr der Weg wohlbekannt.
Doch momentan schienen sich ihr Körper und ihre Seele gemeinsam zu weigern, das finstere Haus zu betreten. Nur ihr Wille zur Pflichterfüllung trieb Anna vorwärts.
Irgendwie schaffte sie es, auf den mit hohen Mauern umgebenen Hof zu gelangen. Normalerweise spielten zwischen den überquellenden blechernen Ascheimern Scharen von schmutzigen Kindern. Doch seit die Cholera-Epidemie Hamburg fest in ihren Klauen hatte, war alles anders. Vor allem die Armen starben an der Seuche, das hatte Anna von Anfang an begriffen. Wer noch lebte und nicht erkrankt war, versteckte sich in seinem Zimmer – wenn er eins besaß.
Anna atmete tief durch, obwohl die Luft im Hinterhof süßlich nach Verwesung stank. Zwischen zwei Mülltonnen entdeckte Anna eine tote Ratte. Sie schrie schrill auf, weil der Anblick sie ekelte und erschrak.
Doch gleich darauf wurde es noch schlimmer.
Ein heiseres Knurren ertönte hinter ihr. Anna wurde von der Furcht gepackt. Es war, als wäre sie von einer plötzlichen Lähmung befallen worden. Sie wusste, dass sie die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen durfte. Sie musste sich umdrehen, der Gefahr ins Auge blicken. Doch genau das fiel ihr unglaublich schwer.
Das Grollen war erneut zu hören.
Anna sprach sich selbst Mut zu. Und dann, bevor ihre Tapferkeit sie wieder verließ, wandte sie sich um.
Sie erblickte Carl Lütke, den Schauermann.
Er musste es einfach sein. Der Unhold trug die Kleidung eines Hafenarbeiters, und mit viel Fantasie konnte sich Anna vorstellen, dass dieser Schreckenskerl noch vor wenigen Wochen der gut situierte Bürgersohn Carl Lütke aus Blankenese gewesen war. Doch daran erinnerte jetzt kaum noch etwas.
Seine Joppe starrte vor Schmutz. Das bleiche Gesicht war mit langen Bartstoppeln bedeckt. Die geröteten Augen lagen tief in den Höhlen. Blutkrusten an Mund und Nase zeugten davon, dass er seine Zähne in Frauenhälse geschlagen hatte.
Carl Lütke war von Sinnen. Anna musste keine Nervenärztin sein, um zu erkennen, dass sie einen gefährlichen Irren vor sich hatte. Das war nicht mehr der Mann, der genüsslich dem Tagebuch seine erotischen Abenteuer anvertraut hatte.
Stattdessen kauerte eine Bestie in Menschengestalt neben dem Brennholzstapel, hinter dem sie sich zuvor verborgen haben musste.
»Carl«, hauchte Anna. Nun hatte sie endlich den Mörder der jungen Frauen gefunden. Boysen würde sich freuen, aber der Offiziant war krank. Und auf diesem finsteren Hinterhof war kein anderer Constabler weit und breit zu sehen. Bis zur nächsten Polizeiwache war es mindestens eine Meile. Anna bezweifelte, dass sie es schaffen würde, Hilfe zu holen.
Trotzdem raffte sie ihre Röcke und begann wegzulaufen. Es war ihr Urinstinkt, der sie dazu trieb. Bei unmittelbar drohender Todesgefahr gewann Annas angeborener Überlebenswille die Oberhand über ihre anerzogene Verstandesorientierung.
Weit kam sie nicht.
Der Schauermann sprang sie an, noch bevor sie die Toreinfahrt erreicht hatte. Er packte ihr linkes Fußgelenk. Anna fiel der Länge nach hin. Sie schlug mit dem Gesicht auf den harten Boden, Blut floss aus ihrer Nase.
Carl knurrte und fauchte. Er schien nicht mehr dazu in der Lage zu sein, sich wie ein Mensch artikulieren zu können. Der Mörder zerfetzte Annas Rock und Unterrock.
Die Berührung seiner schmutzigen Hände auf ihrem weißen Unterschenkel wirkte wie ein heilsamer Schock. Anna begriff, dass sie kämpfen musste. Noch nie hatte ein Mann ihren Körper dort berührt. Sie wusste nicht, ob der Mörder ihr Gewalt antun oder sie gleich totbeißen wollte. Anna wusste nur, dass sie es nicht zulassen würde.
Sie musste wieder an Boysen denken, und diese Vorstellung gab ihr Kraft. Anna erinnerte sich an den Moment, als sie dem geifernden Lynchmob gegenübergestanden hatten. Auch in diesem Moment hatte sie gehandelt, und intuitiv das Richtige getan.
Anna öffnete blitzschnell ihre Umhängetasche, während der Schauermann ihr weiterhin die Kleider vom Leib riss. Die junge Frau hatte ihr Versprechen gegenüber Boysen gehalten. Sie führte nicht nur Bibeln mit sich, sondern auch eine Waffe.
Es war nur ein kleiner sogenannter Damenrevolver, ein Flobert-Revolver mit ornamentiertem Patentschaft, ausgekehlter Walze und verziertem Kautschukgriff. Die Trommel war gefüllt mit sechs Patronen.
Anna wusste, dass ein Revolver keine Schusswaffe mit hoher Treffsicherheit war. Aber zwischen der Revolvermündung und
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