Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Cholera-Epidemie zeigt erste Erfolge, Fräulein Dierks. Bald werden nicht mehr so viele polizeiliche Kräfte durch die Seuchenbekämpfung gebunden sein. Carl Lütke verhält sich auffällig. Seine Verkleidung als Schauermann nützt ihm nichts mehr. Ich werde ihn schon bald erwischen, da bin ich mir sicher. – Trotzdem möchte ich Sie bitten, bis auf Weiteres nicht mehr allein in die Armenviertel zu gehen.«
Anna zog unwillig die Augenbrauen zusammen. »Ich bin kein kleines Kind mehr, Offiziant Boysen. Ich kann sehr gut auf mich allein aufpassen. Und gerade in der Zeit der Cholera benötigen die gefallenen Mädchen meine Hilfe mehr denn je.«
»Die brauchen sauberes Wasser und keine Bibelsprüche«, knurrte Boysen. Im gleichen Moment bereute er bereits seine Bemerkung. Doch da hatte er es schon geschafft, Anna zu verärgern.
»Ich bin mir im Klaren darüber, dass Sie meiner Tätigkeit nur Verachtung entgegenbringen, Offiziant Boysen«, sagte Anna kühl. »Aber Sie sollten bedenken, dass ich kein Mann bin. Ich habe nicht die Möglichkeit, in der Uniform des Constabler Corps gegen das Böse zu kämpfen. Ich muss das tun, was für eine junge Dame von Stand realisierbar ist.«
»Ja.« Boysen senkte reuig den Kopf. »Können Sie einem breegenklöterigen Udel noch einmal verzeihen?«
Anna musste schmunzeln. »Vergebung gehört wohl zu den höchsten christlichen Tugenden. Ich bin mir inzwischen sicher, dass sich unter Ihrer rauen Schale ein gutes Herz verbirgt, Offiziant Boysen.«
»Vielen Dank. Aber wenn Sie schon in das Gängeviertel oder hinunter zum Hafen gehen, dann nehmen Sie wenigstens einen Revolver mit. Ich habe gesehen, dass Sie damit umgehen können.«
Anna öffnete den Mund, um Boysen zu sagen, dass sie Gewalt verabscheute. Aber dann erinnerte sie sich an ihren kurzen, aber harten Zweikampf mit dem unheimlichen Schauermann. Gott hatte seine schützende Hand über sie gelegt, davon war sie überzeugt. Aber es wäre trotzdem besser gewesen, eine Waffe bei sich zu haben.
Die junge Frau nickte langsam und bedächtig. »Also gut, Offiziant Boysen. Ich verspreche Ihnen, einen der Revolver meines Vaters mitzuführen. Er besitzt mehrere Schusswaffen und wird wahrscheinlich gar nicht merken, dass eine davon fehlt.«
»Das ist gut. Es dient nur Ihrem eigenen Schutz.« Boysen stand auf. »Ich verabschiede mich, Fräulein Dierks. Es ist schon spät. Vielen Dank für die Zeit, die Sie mir gewidmet haben.«
»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte Anna lächelnd. »Leben Sie wohl, Offiziant Boysen.«
Boysen ertappte sich dabei, dass er vor sich hin pfiff, als er langsam zur Haltestelle der Pferde-Straßenbahn ging. Er musste die ganze Zeit an Anna denken. Ihre anmutige Gestalt und ihr hübsches Gesicht gingen ihm nicht aus dem Kopf.
Hast du dich etwa in diese Betschwester verliebt, Lukas? , fragte Boysen sich voller Selbstironie. Er wusste es selbst nicht so genau. Allerdings war es schon auffällig, dass er bei jeder Gelegenheit Annas Nähe suchte.
Lange hielt sein Wohlbefinden nicht an. Schon in der Straßenbahn wurde Boysen plötzlich von Schweißausbrüchen und heftiger grundloser Angst geplagt. Außerdem rebellierte sein Magen. Am Meßberg sprang der Offiziant aus dem Waggon. Er schaffte es nicht mehr bis zur Brooktor-Wache. An der Ecke Brandstwiete und Dovenfleet versagte sein Schließmuskel. Boysen gab aus Mund und Anus gleichzeitig übel riechende Flüssigkeit von sich. Schüttelfrost hatte ihn fest im Griff. Der Offiziant musste nicht lange Rätselraten. Er wusste genau, was mit ihm los war.
Boysen hatte sich mit der Cholera angesteckt.
9. Kapitel: Auf Leben und Tod
Der Offiziant hatte Glück im Unglück. Wenige Minuten nach seinem Zusammenbruch wurde er von zwei Constablern gefunden. Die Udels holten einen Gefangenentransporter und schafften Boysen in diesem Gefährt zum Seemannskrankenhaus auf St. Pauli.
Boysen war bei Bewusstsein. Ihm wurde klar, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Passagier in einem Gefangenentransporter war. Aber so richtig konnte er über diese Ironie des Schicksals nicht lachen. Er war immer noch vollauf damit beschäftigt, Erbrochenes und Fäkalien von sich zu geben.
Das Seemannskrankenhaus war schon längst überfüllt. Allerdings hatte man in der Nähe des Hospitals in aller Eile Cholera-Baracken errichtet. Nach einer Zeit, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, wurde ihm dort ein Feldbett zugewiesen. Der Patient, der dort zuvor gelegen hatte, war
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