Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Cholera-Erkrankung erfuhr. Sie war zur Brooktor-Wache gegangen, weil sie sich nach Neuigkeiten über die Mordserie erkundigen wollte. Dort schickte man sie zur Davidwache, wo Boysen als Vertretung eingesetzt war. Erneut bat sie darum, mit Boysen sprechen zu dürfen.
»Offiziant Boysen hat die Cholera, Fräulein«, sagte ein bleicher und übernächtigt aussehender Mann, der ebenfalls die Rangabzeichen eines Offizianten auf seinem Waffenrock hatte.
Anna riss ihre schönen Augen auf und schlug ihre rechte Hand vor ihren Mund. »Das ist ja schrecklich! Wie geht es ihm?«
»Ich weiß es nicht, mein Fräulein. Wir haben zu viele Krankheitsausfälle und müssen versuchen, trotzdem unseren Dienst zu verrichten.« Bitter fügte er hinzu: »Und auch die sinnlosesten Aufgaben wollen erledigt werden. Meine Constabler ziehen ins Gängeviertel und müssen Plakate mit Cholera-Warnungen kleben – dabei kann das Pack da größtenteils gar nicht lesen.«
Anna wollte protestieren, aber sie biss sich auf die Zunge. Im Grunde hatte der Uniformierte Recht, wenn sie auch seine verächtliche Haltung gegenüber den Armen nicht teilte. Doch Anna hatte von der Plakatklebeaktion im Fremdenblatt gelesen und fand sie ebenfalls sinnlos. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass viele Menschen aus dem einfachen Volk wirklich Analphabeten waren.
Die junge Frau bedankte sich für die Auskunft und verließ die Davidwache wieder. Sie dachte an Boysen und war in großer Sorge um sein Leben. Noch vor wenigen Tagen hätte sie es niemals für möglich gehalten, dass dieser zynische Grobian solche Gefühle in ihr auslösen könnte.
Ob sie sich am Ende gar verliebt hatte? Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als sie ihn auch schon rigide in die hinterste Ecke ihrer Seele verbannte. Eine Verbindung zwischen ihr und Offiziant Boysen war völlig undenkbar, hätte einen gewaltigen sozialen Abstieg bedeutet. Annas Vater würde einer solchen Ehe niemals zustimmen. Und einen Mann gegen den Willen ihrer Eltern zu heiraten, war jenseits ihrer Vorstellungskraft.
So etwas gab es nur in rührseligen Romanen. Davon war Anna fest überzeugt.
Sie ging sogleich in die evangelisch-lutherischen St. Pauli-Kirche am Paulsplatz und sprach ein Gebet für Boysen. Das war alles, was sie momentan für ihn tun konnte.
An diesem schönen Augusttag trug Anna wieder ein schlichtes ärmliches Kleid. Sie wollte zu den Armen gehen, um ihnen Zuversicht und Gottvertrauen zu spenden. Sie musste einfach etwas tun, sie konnte sich nicht in das sichere Haus ihrer Eltern zurückziehen, wie es viele Menschen in Blankenese taten.
Anna hatte in ihrer Umhängetasche einige Volksbibeln dabei, die von Philanthrophen gespendet worden waren. Die erste Frau auf Annas heutiger Liste hieß Josefine Maurer. Das neunzehnjährige Straßenmädchen lebte in einem Untermietzimmer am Kattrepel.
Der jungen Blankeneserin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie von der breiten Steinstraße in den schmalen Kattrepel einbog. Die schmutzige düstere Straße war ihr immer schon unheimlich gewesen. Vielleicht lag es daran, dass der Kattrepel eine der ältesten Hamburger Straßen war. Die Gasse existierte seit dem Mittelalter, wie Anna einmal in der Schule gelernt hatte. Diese finstere Zeit schien hier niemals aufgehört zu haben. Anna hätte sich nicht gewundert, wenn ihr eine Prozession von Pestkranken entgegengekommen wäre.
Die junge Frau rief sich selbst innerlich zur Ordnung. Sie begriff, dass soeben ihre Fantasie mit ihr durchging. Aber war das wirklich so verwunderlich?
Die schmalen Katen der ärmlichen Straße erinnerten sie an düstere Kerker. Der Kattrepel wirkte wie ausgestorben. Jedes Leben hatte sich verabschiedet, die Menschen waren fort oder hatten sich in ihre elenden Behausungen zurückgezogen. Hinter sich an der Steinstraße hörte sie Hufklappern, das Rattern von Wagenrädern und das Wiehern der Gespannpferde. Doch ansonsten herrschte eine unheimliche Stille am Kattrepel.
Anna schickte ein Stoßgebet zum Himmel, um ihre Zuversicht zurückzugewinnen. Doch das fiel ihr in diesem Moment sehr schwer. Obwohl strahlender Sonnenschein herrschte, war die Gasse grau, trist und freudlos.
Die junge Frau ging mit langsamen Schritten auf das baufällige Gebäude zu, in dem die Prostituierte Josefine Maurer hauste. Um zum Zimmer der Dirne zu gelangen, musste Anna die Toreinfahrt durchqueren. Noch nie war ihr das so schwer gefallen wie an diesem herrlichen Vormittag im August. Anna hatte
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