Der Scherbensammler
26
Seltsamerweise musste Merle an Smoky denken. Sie hatte ein solches Bedürfnis danach, die Finger in seinem dünnen grauen Fell zu vergraben und bei ihm Trost zu suchen, dass es sie selbst verblüffte. Wenn sie hier jemals heil wieder rauskämen, schwor sie sich, würde sie den Kater zu sich holen.
Mit diesem Gedanken kehrte ihr Überlebenswille zurück. Sie setzte sich gerade hin und dachte nach.
Ben hatte sich darauf eingerichtet, länger hierzubleiben. Aber er besaß nicht das Durchhaltevermögen, das er brauchen würde, um drei Mädchen unter Kontrolle zu halten.
Wie er da stand und aus dem Fenster starrte! Was erwartete er? Ein Einsatzkommando von der Polizei? Hubschrauber, Maschinengewehre und eine Stimme, die ihn über Megaphon aufforderte, sich zu ergeben und mit erhobenen Händen herauszukommen?
Das hier war kein Film, in dem sich gegen Ende alles fein geordnet zusammenfügte. Niemand wusste, dass sie in diesem Haus gefangen waren. Niemand wusste, dass Ben ein Mörder war. Sie mussten sich selbst helfen, denn keiner sonst würde es tun.
Wenn sie nur mit Jette sprechen könnte!
»Ich habe Hunger«, sagte sie, stand auf und ging langsam auf die Küche zu. Ben hielt sie nicht auf und so holte sie Teller aus dem Schrank und stellte für jeden einen auf die Theke.
»Darf ich ihr helfen?«, fragte Jette.
Ben antwortete nicht. Sie nahm das als Zustimmung und wickelte das Brot aus dem Papier. Jeder würde sich ein Stück abbrechen müssen, denn Ben hatte vorsichtshalber sämtliche Messer und Gabeln aus den Schubladen verbannt.
»Möchtest du auch was essen, Mina?«, fragte Merle wie nebenbei.
Sie musste herausfinden, welche der Persönlichkeiten gerade die Oberhand hatte. Sie wünschte, es wäre Marius.
Mina erwachte aus ihrer Abwesenheit. Sie stand auf und kam zu ihnen herüber. Ihre Schritte waren leicht und federnd. Sie hielt den Rücken sehr gerade und den Kopf hoch erhoben. Ihre Miene war unbewegt.
Merle warf Jette einen raschen Blick zu.
In diesem Moment sprang Ben vom Fenster weg und drückte sich an die Wand.
»Polizei!«
Er wies mit dem Messer auf Jette.
»Ich habe gewusst, dass du uns verraten würdest.«
Langsam, wie in Zeitlupe beinah, trat Cleo zwischen ihn und uns.
»Gib auf, Ben«, sagte sie ruhig und streckte die Hand nach dem Messer aus.
Endlich erreichte sie ihn. Er meldete sich knapp. Atemlos.
»Ja? Melzig.«
An den Hintergrundgeräuschen erkannte sie, dass er im Auto unterwegs sein musste.
»Thalheim.«
Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Sie spürte, dass etwas passiert sein musste, wollte es wissen und auch wieder nicht.
»Jette hat sich gemeldet«, sagte er. »Ich bin auf dem Weg zu ihr.«
Über den Tisch hinweg griff Imke nach Tilos Hand.
»Wo ist sie? Geht es ihr gut? Was macht Merle? Ist Mina bei ihnen?«
Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus.
»Es wird alles gut«, sagte der Kommissar. »Geben Sie mir ein bisschen Zeit. Ich darf das Handy jetzt nicht blockieren.«
Sofort beendete sie das Gespräch. Sie wollte nichts tun, was seine Arbeit behindern würde. Als sie aufsah, begegnete sie Tilos erwartungsvollem Blick.
»Alles wird gut«, wiederholte sie und fing an zu weinen.
»Aus dem Weg, Mina!«
Sie wich keinen Zentimeter von der Stelle.
»Einige von uns kannst du vielleicht einschüchtern, Ben, aber nicht mich. Ich bin Cleo. Und ich werde nicht zulassen, dass du Jette, Merle oder irgendeinem aus dem Team etwas antust.«
Er hörte ihr nicht zu. Hob den Arm, um sie beiseitezuschieben.
Cleo duckte sich. Ihr rechtes Bein schnellte hoch und traf Ben am Handgelenk. Das Messer flog durch die Luft und landete klirrend irgendwo auf dem Boden.
Ben rieb sich die Hand. Er starrte Cleo an. Sein Gesicht wurde rot vor Wut.
Und dann griff er sie an.
»Lauft!«, rief Cleo uns zu. Sie glitt unter Bens Angriff weg und hob gleich wieder die Arme.
Merle und ich gehorchten ihr. An der Tür blieben wir stehen. Aber nur für einen kurzen Moment. Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Wenn da draußen Polizisten waren, mussten sie eingreifen und Cleo helfen.
Bert konnte sich nicht erinnern, jemals so gerast zu sein. Er ging davon aus, dass bei seiner Ankunft alles vorbei sein würde. Aber man konnte nie wissen und er fühlte sich verantwortlich für die Mädchen.
Auch für Mina. Vor allem für sie. In ihrem Zustand musste sie die Hölle durchmachen.
Es war nicht allzu viel Verkehr. Und alle machten ihm Platz. Er kam gut voran, und er
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