Der Scherbensammler
schön!«
Bert drehte sich nach der dünnen, freundlichen Stimme um und erkannte die alte Dame wieder, mit der er sich bei seinem ersten Besuch kurz unterhalten hatte. Wieder schleppte sie das Album mit sich herum.
»Guten Tag, Frau Sternberg. Wie geht es Ihnen?«
Mit der linken Hand hielt sie das Album, mit der rechten strich sie über den Einband. Es machte ein trockenes Geräusch.
»Die Nächte sind so lang«, sagte sie.
»Schlafen Sie denn schlecht?«
Sie lächelte und steuerte ein Sofa an. »Ich schlafe nie.« Ächzend ließ sie sich auf dem abgescheuerten moosgrünen Polster nieder und klopfte auf den Sitz neben sich. »Kommen Sie, junger Mann.«
Es war lange her, dass jemand Bert als jungen Mann bezeichnet hatte. Er folgte ihrer Einladung und sie schlug das Album auf.
»Hier ist mein Leben. Wollen Sie es sehen?«
»Ich gebe dir eine Dreiviertelstunde«, sagte Ben und schaute auf seine Uhr. »Nicht eine Minute länger. Solltest du auf dumme Gedanken kommen, werde ich mir Merle vorknöpfen. Hast du verstanden?«
»Ich bin keine gute Läuferin, Ben. Das war schon in der Schule so.«
»Hab ich gesagt, du sollst laufen?« Er wurde ärgerlich. »Ich hab’s ausgerechnet. Mit einem normalen Schritttempo ist es zu schaffen.«
»Und wenn ich durch irgendwas aufgehalten werde?«
»Du gehst in den Ort, kaufst die Sachen, die ich aufgeschrieben habe, und kommst zurück. Was soll dich da aufhalten?«
»Bitte, Ben! Du kannst nicht Merles Leben davon abhängig machen, ob ich es schaffe, rechtzeitig zurück zu sein.«
»Ich kann noch viel mehr.«
Er packte mich grob am Arm.
»Haust du ab oder rufst du die Bullen, dann werde ich dich finden. Irgendwann. Irgendwo. Und dann wirst du dir wünschen, du hättest mir gehorcht.«
Er schob mich hinaus und schaute noch einmal auf die Uhr.
»Schritttempo. Damit du nicht auffällst. Ich beobachte dich.«
Merle machte Feuer. Ben wollte es so. Er schien sich erkältet zu haben, denn er fror, obwohl es nach dem Heizen gestern so kalt gar nicht mehr war. Sie war froh, etwas zu tun zu haben. Solange sie sich an den Öfen zu schaffen machte, musste sie sich nicht zwanghaft vorstellen, was Jette unterwegs alles zustoßen konnte.
Doch dann loderte das Feuer hinter den Glastüren, und Merle saß mit Mina auf dem Sofa im Wohnzimmer, während Ben am Küchenfenster stand und den Weg beobachtete. Bitte, Jette, dachte sie, sei vorsichtig. Stolpere nicht. Brich dir nicht den Fuß. Komm heil und gesund und vor allem pünktlich zurück!
Sie wusste nicht, welche der Persönlichkeiten gerade neben ihr saß. Sie hoffte nur, Minouschka würde bleiben, wo der Pfeffer wuchs. Das Letzte, was ihr jetzt noch fehlte, wäre jemand, der mit Ben gemeinsame Sache machte.
Merle schaute zur Seite und begegnete Cleos kühlem, beherrschtem Blick. Erschrocken spähte sie zu Ben hinüber. Es war Cleo gewesen, die ihnen diese Suppe eingebrockt hatte. Sie würde sich doch nicht noch einmal mit Ben anlegen?
Kapitel 25
An der Wegbiegung begann ich zu laufen. Hier konnte Ben mich nicht mehr sehen. Ich musste so viel Zeit herausholen wie möglich. Doch nach einigen Hundert Metern bereits hatten mich meine Kräfte verlassen und ich lehnte schnaufend an einem schiefen Zaunpfahl.
Was hatte unser Sportlehrer uns eingebläut? Gleichmäßig laufen, gleichmäßig atmen und mit den Kräften haushalten. Ich stopfte den Leinenbeutel mit dem Einkaufszettel und dem Geld unter meine Jacke, damit er mich nicht behinderte, und lief weiter. Einatmen. Ausatmen. Ein. Aus.
Alles hing jetzt von mir ab. Das hier war vielleicht die einzige Chance, die wir bekommen würden. Die Situation spitzte sich immer weiter zu und Ben war nicht besonders belastbar. Ebenso wenig Mina. Wir saßen auf einem Pulverfass.
Das unbefestigte Stück Weg ging in den asphaltierten Teil über. Bald würde ich die Landstraße erreichen. Ich versuchte, das Seitenstechen zu ignorieren, aber es gelang mir nicht. Unter den ausladenden Zweigen einer schrumpeligen, alten Ölweide mit silbrigen Blättern blieb ich stehen, beugte mich vor und schnappte nach Luft.
Eine Minute nur, dann lief ich weiter. Ich hörte mich keuchen. Jeder Atemzug tat mir weh. Die Schmerzen in meinen Beinen waren kaum auszuhalten.
Es war ein Fehler gewesen, Ben keinen Widerstand entgegenzusetzen. Ich hätte Hilfe rufen sollen, als ich die Schlüssel aus Frau Sternbergs Zimmer holte. Hätte mich von seinen Drohungen nicht einschüchtern lassen dürfen.
Da war die
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