Der Scherbensammler
er still wäre, endlich still.«
Mina hörte ihm mit offenem Mund zu. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Es war zu viel darin zu lesen - Schmerz, Entsetzen, Ohnmacht, Fassungslosigkeit. Ihre Hände lagen weiß und schmal auf ihren Knien, Kinderhände, so hilflos, dass ich den Blick abwenden musste.
»Aber er war nicht still. Er dachte gar nicht daran. Er ließ seine ganze perverse Wut an mir aus. Nie würde ich an seine Stelle treten, brüllte er. Und bevor er mir erlauben würde, dich anzufassen, würde er mich lieber erschlagen wie einen räudigen Hund.«
Ben vergaß seine Vorsicht. Er wandte dem Fenster den Rücken zu.
»Alles, woran ich geglaubt, worauf ich gehofft hatte, das Einzige, was mich am Leben erhielt, zertrümmerte er mit ein paar brutalen Sätzen. Und dann fing er an, Witze zu machen. Zotige Bemerkungen über meine Gefühle für dich.«
Ben warf den Kopf in den Nacken. Er hatte nicht die Absicht, die Fassung zu verlieren. Nicht vor unseren Augen, denn das hätte ihm nur zwei Möglichkeiten gelassen: wehrlos zu sein oder grausam.
»Er hat es gewusst! Verstehst du? Dieser Mistkerl hat es gewusst! Obwohl ich nie gezeigt habe, was in mir vorging, nie.«
Bens Stimme hörte sich an, als wäre er erkältet. Er räusperte sich, doch das half nicht viel.
»Und dann lachte er über meine Liebe zu dir. Er hörte gar nicht mehr auf zu lachen. Schließlich bekam er vor Lachen einen Hustenanfall. Und selbst dabei lachte er weiter.«
Minas Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Ich sah, wie verkrampft ihre Schultern waren. Obwohl sie Bens Worte kaum zu ertragen schien, saugte sie sie förmlich in sich auf.
»Auf der Fensterbank stand der schwere Kerzenleuchter aus Messing. Ich nahm ihn, hob ihn hoch über meinen Kopf und schlug zu. Er wollte fliehen, doch auf der Türschwelle knickten ihm die Beine weg.«
Mina riss die Augen auf. Sie war kreideweiß.
»Er war immer noch nicht still. Sein Körper zuckte. Er stöhnte. Und er hatte noch nicht genug gelitten. Nicht so, wie wir gelitten haben, du und ich. All die Jahre.«
»Und dann hast du auf ihn eingestochen.«
Mina hatte ihre Haltung nicht verändert. Ihre Stimme war heiser und nicht viel lauter als ein Flüstern.
»Wieder. Wieder. Und wieder.«
Ben nickte. Er zog das Messer aus der Tasche und betrachtete es gedankenverloren.
»Nicht mit diesem Messer. Mit einem anderen. Erst als mein Arm schwer geworden ist und ich ihn nicht mehr heben konnte, habe ich aufgehört.«
Auf seiner Stirn stand Schweiß. Er atmete mühsam. Als hätte er Minas Vater ein zweites Mal getötet. Mit Worten.
»Ich habe mich umgezogen. Und bin in die Werkstatt zurück. Die blutbespritzten Klamotten habe ich verbrannt. Marlene hat nichts bemerkt. Sie hatte es sich wieder in ihrer Welt gemütlich gemacht, abseits von jeder Wirklichkeit.«
Mina sah starr geradeaus. Sie hielt den Kopf geneigt, als lauschte sie einer inneren Stimme. Was sie dann sagte, klang verwundert, als könne sie es selbst nicht glauben.
»Ich bin in die Wohnung gekommen, um mir das Geld zu holen, das der Vater mir bei der letzten Bestrafung weggenommen hatte. Er hatte kein Recht dazu und ich brauchte es. Ich wusste, wo er es aufbewahrte.
Um diese Zeit war er normalerweise in der Werkstatt. Aber nicht an diesem Tag. Und … und als ich in die Wohnung kam … lag er da. Überall … überall war Blut.
Ich bin darauf ausgerutscht. Und hingefallen. Sein Kopf war ganz nah neben meinem. Seine … seine Augen waren offen. Und tot. Er starrte mit diesen … toten Augen an die Zimmerdecke. Ich... hab mich in der Küche versteckt. Ich hatte solche Angst.«
»Du hast ihn gesehen?«
Ben wandte sich wieder dem Fenster zu. Diesmal, um sein Erschrecken zu verbergen.
»Und … Max?«
Ich konnte erkennen, welche Überwindung es Mina kostete, weiter zuzuhören.
»Er wollte deine Verwirrung ausnutzen. Dich mit seinen dreckigen Fingern begrapschen. Er hat dich abgepasst. Wochenlang auf diesen Augenblick gewartet. Dieses miese Schwein!«
Bens Gesicht verzog sich vor Abscheu.
»Du warst stärker als er. Du hättest ihn stoppen können.«
»Er hatte den Tod verdient. Wie dein Vater. Ich habe nur getan, was getan werden musste.«
Mina senkte den Kopf. Und zog sich wieder in ihr Schweigen zurück.
Aber sie hatte sich erinnert.
Sich erinnert!
Wie Tilo sich darüber freuen würde.
Vielleicht wird er es nie erfahren, dachte ich, und das bedauerte ich im Augenblick mehr als alles andere.
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