Der schlafende Engel
Weil es komplett verrückt war. Deshalb. Aber irgendwie musste sie es schaffen.
Immer schön eines nach dem anderen , dachte sie und drückte Gabriels Hand.
Es klopfte leise an der Tür. April hob den Kopf und sah Detective Inspector Reece im Türrahmen stehen.
»April?«, sagte er. »Könnte ich dich kurz sprechen?«
Sie warf Gabriel einen Blick zu und nickte.
»Ich habe gerade mit meinem Boss gesprochen – meinem neuen Boss – und habe gute Nachrichten. Wir werden dem Vorfall nicht weiter nachgehen.«
»Wirklich?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Wir haben mehrere verlässliche Zeugen, die deine Version der Ereignisse bestätigen, April. Und in Anbetracht von Dr. Tames … äh … Geisteszustand wäre jede weitere Ermittlung eine reine Vergeudung von Zeit und Personal, denke ich.«
Als die Polizei in der Schule eingetroffen war, hatten sie April über dem reglos daliegenden Gabe kauernd vorgefunden. Nur wenige Meter neben ihm hatte Thomas in einer riesigen Blutlache gelegen. Und daneben Dr. Charles Tame, der kichernd Thomas’ Hand gehalten und wieder und wieder »Der König ist tot. Es lebe der König« gebrabbelt hatte. Der Notarzt hatte ihm ein Beruhigungsmittel gespritzt und ihn dann auf direktem Weg in eine geschlossene Abteilung im Whittington Hospital verfrachtet – vermutlich befand er sich in diesem Moment nur ein paar Stockwerke ober- oder unterhalb von ihnen. April unterdrückte einen Schauder.
»Und was passiert jetzt?«, fragte Gabriel. »Mit Dr. Tame, meine ich?«
Der Polizist hob die Brauen.
»Wir werden abwarten müssen. Obwohl er deutliche Würgemale am Hals hatte – wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie ja versucht, ihn aufzuhalten, mein Junge –, konnte er uns seine Version der Vorfälle schildern.«
»Und?«
»Er scheint zu glauben, dass dein Großvater ein Vampir war, April.«
»Ein Vampir.« April sah Gabriel an, der mit keiner Wimper zuckte.
»Laut Dr. Tame war dein Großvater der Vampirkönig, der Kopf einer gigantischen globalen Verschwörung, die die Versklavung aller Menschen zum Ziel hatte. Gabriel hält er für einen Zombie-Killer, dem dein Großvater befohlen hat, ihn zu erwürgen. Es tut mir leid, April. Du hast schon mehr als genug mitgemacht, aber ich hielt es für besser, wenn du es von mir erfährst.«
April blickte auf ihre Hände und nickte.
»Danke, Mr Reece.«
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
»Aber er wirkte so normal. Wieso hat er …«
»Wieso er den Verstand verloren hat? Dieselbe Frage habe ich auch gestellt. Offenbar sind solche Nervenzusammenbrüche bei überehrgeizigen Menschen keine Seltenheit. Wenn das Gehirn dem Druck nicht länger standhält, kann dies eine unterschwellige Schizophrenie ans Tageslicht treten lassen. Höchstwahrscheinlich hat die Fixierung auf deinen Großvater begonnen, als Mr Hamilton den Polizeipräsidenten gebeten hat, Dr. Tame von seiner Funktion als Berater für die Polizei zu entbinden.«
»Ich wusste gar nicht, dass er das getan hat«, sagte April.
»Es gab doch diesen Vorfall, als Dr. Tame zu dir nach Hause gekommen ist und dich bedroht hat, richtig? Ich habe den Bericht noch nicht vollständig gelesen. Nachdem er erst einmal zu der Überzeugung gelangt war, dein Großvater sei der große Feind, war sein instabiles Gehirn offenbar geradezu prädestiniert, dieses absurde Alternativuniversum zu erfinden, um seine Taten irgendwie zu rechtfertigen. Wir ermitteln auch im Mord an Calvin Temple gegen ihn.«
»Sie glauben, er könnte auch ihn auf dem Gewissen haben?«
»In Anbetracht des Grolls, den er gegen deinen Großvater gehegt hat, wäre es durchaus vorstellbar, aber ich bin nicht sicher, ob wir die Wahrheit jemals herausfinden werden. Eines steht allerdings fest: Dieser Mann wird nie wieder jemandem etwas tun. Nicht dass das ein großer Trost für dich wäre, aber …«
»Nein, das ist immerhin etwas, Mr Reece.«
April hatte Gewissensbisse, weil Charles Tame die Schuld für etwas in die Schuhe geschoben bekam, das er nicht getan hatte, andererseits war er auch keineswegs ein Unschuldslamm, oder? Er hatte sich mit größter Freude bereit erklärt, Hunderte Jugendliche in Vampire oder willenlose Sklaven zu verwandeln, und höchstpersönlich die Schaffung einer Zombie-Armee überwacht, angefangen mit der brutalen Neuprogrammierung von Gabriels Gehirn im Labor von Ravenwood. Hatte er das verdient? April war nicht sicher, aber mit dieser Frage würde sie sich später noch befassen.
»Ich
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