Der schlafende Engel
sie. »Ich warne dich, Grandpa …«
Thomas’ Hand schnellte vor und legte sich um Aprils Handgelenk.
»Du warnst mich?«, zischte er und zog sie heran, sodass ihre Gesichter sich beinahe berührten. »Du wagst es, dem König zu drohen? Du bist genauso wie deine Mutter. Keine von euch beiden verdient es, die Krone zu tragen.«
Er schleuderte sie zu Boden und baute sich über ihr auf.
»Entscheide dich«, sagte er mit kalter, gebieterischer Stimme.
»Entscheiden?«, fragte April und blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Zwischen ihm und mir. Du hast die Wahl zwischen einem wertlosen Sklaven und der ruhmreichen Regentschaft eines Königreichs, das bis in die Unendlichkeit existieren wird. Ich gebe dir drei Sekunden.«
»Grandpa! Nein!«, schrie April mit hämmerndem Herzen. Das konnte doch nicht sein Ernst sein!
»Eins …«
»Grandpa!«
»Zwei …«
» BITTE !«
»Drei. Na gut. Wenn du ihn willst, sollst du ihn haben.«
Er wandte sich Gabriel zu. Tames Gesicht hatte mittlerweile eine bläuliche Färbung angenommen.
»Gabriel. Leg April die Hände um den Hals und drück zu.«
April blieb kaum Zeit, Luft zu holen, als Gabriel von Tame abließ und sich ihr zuwandte. Seine Hände legten sich um ihren Hals, und seine Daumen drückten auf ihre Luftröhre. Ihr Herz begann zu hämmern, das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie packte seine Handgelenke und versuchte, seinen Griff um ihren Hals zu lösen, doch er war zu stark.
»Tut mir leid, Prinzessin«, sagte Thomas seelenruhig. »Ich hatte so große Hoffnungen in dich gesetzt.«
»Hör auf«, krächzte sie. »Gabriel … bitte … ich liebe dich.«
Einen Moment lang schien sich der Nebel in seinen Augen zu lichten, und sein Griff lockerte sich kaum merklich. Es war, als betrachte er sie wie aus weiter Ferne, als versuche er verzweifelt, ein bekanntes Gesicht in einer riesigen Menge auszumachen.
»April?«, flüsterte er.
»Ja, ich bin’s«, sagte sie und berührte seine Wange.
»Ja, Gabriel«, schnitt sich Thomas’ Stimme durch die nachfolgende Stille. »Das ist April. Und jetzt mach weiter. Ich habe dich verwandelt, deshalb bin ich dein Meister. Und jetzt tu, was ich dir sage, und bring sie um.«
Es war, als lege sich ein Schraubstock um ihre Kehle. Die Worte, die sie hatte sagen wollen, blieben ihr im Halse stecken, und sie spürte einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust, der sich schon bald in ihrem restlichen Körper ausbreiten würde. Dennoch starrte sie weiter wie gebannt in Gabes Augen, suchte nach einem Zeichen des Erkennens, doch da war nichts. Er war nicht länger der Mann, der sie liebte, sondern nur ein Vampir, ein gehorsamer Killer, der seine Befehle ausführte. Es ist nicht deine Schuld, mein Geliebter , dachte sie, während ihr schwindlig wurde. Das bist nicht du.
Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte holte sie aus und trat Gabriel so fest gegen die Kniescheibe, wie sie nur konnte. Er stieß einen verblüfften Schmerzensschrei aus, während seine Beine nachgaben und er auf der linken Körperseite aufschlug, wobei sein Arm ein übelkeiterregendes Knacken von sich gab. Keuchend und hustend sackte April auf dem Boden zusammen und versuchte, so viel Luft in ihre Lungen zu bekommen, wie sie nur konnte. Obwohl sie wusste, dass sie sich aufrappeln und so schnell wie möglich von hier verschwinden sollte, kroch sie zu Gabriel hinüber.
»Gabe«, krächzte sie und legte beide Hände um sein Gesicht. »Ich bin’s, April. Erkennst du mich denn nicht? Bitte … bitte, sag ja.«
Tränen strömten ihr übers Gesicht, als sie in seine Augen blickte, und ihr Herz schien in zwei Teile zu zerbrechen. Wenn Gabriel nicht länger da war, wenn er sich in den Killer aus seinen Träumen verwandelt hatte, gab es auch für sie vielleicht keinen Grund mehr, noch länger am Leben zu bleiben. Einen Moment lang schien jede Hoffnung dahin zu sein, doch dann sah sie etwas – für den Bruchteil einer Sekunde schien etwas in seinen dunklen Augen aufzuflackern.
»Hey, Baby«, sagte er. »Ich glaube, du hast mir den Ellbogen gebrochen.«
April blieb keine Zeit für eine Antwort. Ein dumpfes Poltern ertönte, Gabe wurde aus ihren Armen gerissen und flog quer durch die Luft. Alles schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen, wie im flackernden Schein eines Stroboskops – erstarrte Bilder, eines nach dem anderen, das Drehbuch eines wahr gewordenen Horrorfilms. Sie sah, wie ihr Großvater den Stuhl packte, hörte das schauerliche Knacken, als er ihn auf Gabriels
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