Der schlafende Engel
Schädel niedersausen ließ, und registrierte die Holzsplitter und die Blutlache, die sich auf dem Fußboden ausbreitete.
»Nein!« Abrupt kehrte sie ins Hier und Jetzt zurück, stemmte sich hoch und stürzte sich auf ihren Großvater. Mit gebleckten Zähnen grub sie ihm die Nägel ins Gesicht, wohl wissend, dass sie ihn jederzeit töten könnte. Sie müsste lediglich ihre Zähne in seinem Hals versenken, sich zurücklehnen und zusehen, wie ihr Gift ihn von innen heraus zerfraß, wie sich das dichte Netz aus schwarzen Tentakeln unter seiner Haut ausbreitete, wie sie es bei Benjamin und Chessy gesehen hatte. Es wäre so einfach. Und so richtig. Sein Tod würde auch das Ende von alldem hier bedeuten.
»Tu’s«, stieß er hervor.
April blickte ihrem Großvater ins Gesicht.
»Bring es zu Ende«, sagte er. »Beweise, dass du stark bist, Prinzessin. Nimm mein Leben und setz dir die Krone auf.«
Mit einem Mal war Aprils Versand glasklar. Nach all den Monaten der Verwirrung, des Schmerzes und der Qual, denen sie ausgesetzt gewesen war, in denen sie sich gefragt hatte, wer sie war, wem sie trauen konnte und was sie wollte, sah sie es nun klar und deutlich vor sich: Sie war April Dunne, und sie tat, was sie für richtig hielt. Sie beugte sich vor und küsste Thomas auf die Wange.
»Nein«, sagte sie. »Das werde ich nicht tun.«
Sekunden später flog sie quer durch den Raum, wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt waren. Sie fiel gegen den Tisch, wobei sie mehrere Stühle mit sich riss, die polternd auf dem Boden landeten.
» NEIN !«, dröhnte Thomas. » DU WIRST DICH MIR NICHT WIDERSETZEN ! ICH BIN DER KÖNIG !«
Er streckte die Hand aus, riss April scheinbar mühelos vom Boden hoch und schleuderte sie gegen die Bühne. Schmerzhaft bohrte sich die hölzerne Kante in ihren Rücken, und sie stöhnte auf, als Thomas sie erneut packte und gegen die Wand drängte. April versuchte sich zu wehren, doch er schien geradezu übermenschliche Kräfte zu besitzen.
»Mehr kriegst du nicht hin, Furie?«, zischte er und lächelte beim Anblick ihrer entsetzten Miene.
»Oh ja, ich wusste es«, höhnte er. »Hältst du mich etwa für so dumm? Glaubst du, ich wüsste nicht, wieso Silvia davongelaufen ist? Ein sternförmiges Geburtsmal lässt sich nicht so leicht verbergen. Ich habe es gesehen, als ich dich das erste Mal auf dem Arm hielt.«
Er hielt inne, weidete sich an ihrem Entsetzen, an der Wirkung seiner Worte.
»Furie!« Seine Lippen verzogen sich angewidert, als er das Wort ausspie. »Vor mehr brauchen wir uns nicht zu fürchten? Ich dachte, mein Blut flösse in deinen Adern. Ich dachte, wir könnten über diese elenden Maden regieren, sie zusammen zu unseren Sklaven machen. Aber du bist schwach, genauso wie dein Vater. Und genau aus diesem Grund werde ich auch dich töten.«
Beim Anblick von Aprils ungläubiger Miene brach er in Gelächter aus.
» Du ?«, stieß sie hervor. »Du hast meinen Vater getötet? Aber du sagtest doch gerade …«
»Nein, April, ich sagte, ich hätte seinen Tod nicht angeordnet. Das wollte ich schon selbst übernehmen. Dieses Vergnügen wollte ich niemand anderem überlassen.«
»Vergnügen?«, schrie April. »Aber er war mein Dad!«
»Er war es nicht wert, Teil dieser Familie zu sein«, stieß Thomas hasserfüllt hervor. »Dein wunderbarer Vater hat meine Dynastie zerstört, hat unser Blut geschwächt – und besaß dann auch noch die Arroganz zu glauben, er könnte mir meinen Krieg wegnehmen.«
Er näherte sich April. Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze – die gebleckten Zähne und die gekräuselte Schnauze eines Wolfs, das wahre Gesicht eines Vampirs.
»Er musste sterben«, flüsterte er.
Aprils Hand schnellte vor, und ihre Nägel gruben sich in seine Wange. Thomas schien es nicht zu bemerken. Er berührte die Wunde flüchtig und hielt seinen Finger April entgegen.
»So sieht königliches Blut aus, Furie. Sieh es dir genau an, denn das ist das Letzte, was du sehen wirst.«
Seine Pranke kam immer näher, und April konnte lediglich tatenlos zusehen. Ich liebe dich, Gabriel. Es tut mir so leid. Ich bin schuld, dass wir beide sterben müssen , dachte sie und fragte sich flüchtig, ob Vampire wohl in den Himmel kämen.
»Lass sie los.«
Thomas wirbelte herum. Die Tür hinter ihm war weit geöffnet, und im Türrahmen stand – endlich hast du es kapiert , dachte April – Silvia. Hatte sie alles mitangehört? Hatte sie es schon vorher gewusst? Hatte sie gewusst,
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