Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
erwachsen bin, will ich für dich und Papa sorgen.«
»Nein, das ist unmöglich. Wir haben schon vier Jungen, die sich um uns kümmern werden, wenn wir alt sind. Und mit Gottes Hilfe werden noch weitere hinzukommen. Deine Aufgabe wird es sein, für deinen Ehemann zu sorgen, wie es sich für ein Mädchen gehört.«
In den muslimischen Ländern und auf sehr ausgeprägte Weise in meiner Familie gilt es als ein Segen, einen Jungen zu bekommen, während die Geburt eines Mädchens offenbar ein Fluch ist. Ein Mädchen erhält hier niemals eine Vorstellung davon, was Selbstständigkeit ist. Ihr ganzes Leben lang untersteht sie der Verantwortung eines Mannes. Zunächst ist sie abhängig von ihrem Vater und danach von ihrem Ehemann. Deshalb stellt sie für ihre Eltern eine Last dar. Diese Auffassung wird von einer Generation an die nächste weitergegeben, und so nimmt sich bereits ein kleines Mädchen als Fluch wahr. Ich war also ein Fluch für die Familie, in der ich zwischen zwei älteren und zwei jüngeren Brüdern genau die Mitte einnahm.
Meine Eltern waren Ende der fünfziger Jahre als algerische Emigranten nach Frankreich gekommen. Sie hatten sich in einem der besseren Pariser Vororte niedergelassen, wo ich geboren wurde und die ersten Jahre meines Lebens verbrachte. Mein Vater war ein wohlhabender Industrieller, der in der Textilbranche zu Geld gekommen war und nun auch im Restaurantgewerbe tätig war.
Meine einzige Freundin war Amina. Ihre Familie war ebenfalls aus Algerien emigriert, aber sie war arm. Ihr Vater war Müllmann. Meine Mutter hasste es, wenn ich meine Freundin besuchte, denn sie hielt den Umgang mit deren Familie nicht für standesgemäß. Doch schon mit sechs Jahren war Amina für mich der Inbegriff eines glücklichen Kindes, denn ihre Eltern überhäuften sie mit Liebe und Aufmerksamkeit.
Als wir einmal mit unseren Puppen spielten, begann Amina eine lebhafte Debatte über die Bedeutung unserer Vornamen.
»Mein Name ist viel hübscher als deiner!«
»Nein, meiner ist viel schöner«, hielt ich sofort dagegen.
Eigentlich mochte ich meinen Vornamen nicht, denn er erschien mir altmodisch und unpassend. Doch ich hütete mich davor, dies zuzugeben, denn keinesfalls wollte ich ihr den Sieg überlassen.
»Meiner ist hübscher. Mama hat ihn gewählt, weil es der Vorname ihrer besten Freundin in Tunesien ist. Sie wollte, dass ich genauso schön und intelligent wie sie werde. Und ich bin es geworden, das hat meine Mutter mir gesagt!«, erklärte Amina triumphierend.
»Genau das Gleiche hat meine Mutter auch beschlossen«, erwiderte ich, von der Logik meiner Antwort überzeugt.
Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, erfand ich eine wunderschöne Geschichte über die Herkunft meines Vornamens.
Ich war überzeugt, dass Amina mir die Wahrheit gesagt hatte, doch nun war auch meine Neugier geweckt.
Aufgeregt rannte ich zu meiner Mutter, um den Ursprung meines Vornamens zu erfahren.
»Erzähl mir bitte, wie ich auf die Welt gekommen bin, Mama!«
»Da gibt es nichts zu erzählen. Es war der schlimmste Tag meines Lebens!«, antwortete sie mürrisch.
Ich litt mit ihr.
»Mama, ich weiß, dass du meinetwegen sehr viele Schmerzen gehabt hast.«
Sie runzelte die Stirn und sah mich durchdringend an.
»Schmerzen? Ja, viele Schmerzen, aber vor allem hat es hier wehgetan«, sagte sie und wies auf ihr Herz. »An jenem Tag musste mich die Nachbarin ins Krankenhaus begleiten, weil dein Vater ein neues Geschäft kaufte. Als der Arzt mir mitteilte, dass ich eine Tochter geboren hatte, brach für mich eine Welt zusammen. Ich ahnte, wie enttäuscht dein Vater sein würde, und fürchtete, ihm die Freude über den frisch abgeschlossenen Kaufvertrag zu verderben. Deshalb habe ich meine Nachbarin gebeten, einen Vornamen für dich auszuwählen.«
»Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass du ihn selbst ausgesucht hast. Bei meiner Freundin hat die Mutter beschlossen, dass sie Amina heißen soll.«
»Das spielt doch keine Rolle. Wichtig ist nur, dass du deinen Vornamen jetzt magst«, erwiderte meine Mutter gleichgültig.
All meine Hoffnungen waren zerstoben.
»Das ist es ja gerade, ich mag ihn nicht!«, gestand ich weinend.
Als ich einmal bei meiner Freundin war, brachte ihr Vater ihr eine schöne Puppe mit langen blonden Haaren mit, die er in einem Mülleimer gefunden hatte. Meine Freundin war so begeistert, dass sie ihrem Vater um den Hals fiel.
»Bist du glücklich?«, fragte er freudig.
»Ja, Papa. Du bist der
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