Der Schmetterlingsbaum
geraten einem plötzlich Bilder des großen Sees in den Blick. Nordfenster, die Südfenstern gegenüberstehen, geben zerstückelte Meeresansichten wieder, Spiegel fangen das Licht vom See ein, und ab und zu tauchen auf den alten Landschaftsgemälden unter Glas, die im Wohnzimmer hängen, schemenhaft die Pappeln vom Seeufer auf. Glastüren führen in Räume, wo der Blick bei geöffneten Läden weit über den See hin gleitet. Zu manchen Tageszeiten sieht man, wenn man eine der Glastüren öffnet, die von ihrem Zimmer auf die Terrasse gehen, Wellen über diese Mauern huschen und einander zu einer unsichtbaren Küste jagen. Im August flattern die Monarchfalter vor blauem Seewasser, das sich im Glas einer Wettertür spiegelt, und oft befiedert Gischt das Ziffernblatt der Wanduhr. Als junges Mädchen nahm ich nie Notiz von diesen Spiegelungen; damals war das Haus lediglich ein Aufenthaltsort, den man nach den Vergnügungen des Tages nur unwillig betrat. Aber dieses vielfäl tige Wechs elspiel, diese ungewisse, veränderliche Bilderwelt, das gehört jetzt mir. Es ist sonst niemand da, der es braucht.
Seit Mandys Beerdigung ist genau ein Jahr vergangen, wie Sie ja sehr gut wissen. Ein volles Jahr ist es her, seitdem wir zum Luftstützpunkt fuhren, um der Heimführungszeremonie beizuwohnen und anschließend dem langsamen Trauerzug entlang der Straße zu folgen, die zu Ehren der Helden des derzeitigen Krieges umbenannt wurde. Es kam einem wie eine ausgedehnte Reise vor, obwohl der Stützpunkt nur neunzig Meilen westlich von Toronto liegt, wo die militärische Autopsie durchgeführt wurde. Als wir uns der Stadt näherten, kamen wir unter Dutzenden Überführungen hindurch, auf denen respektvolle Zuschauer mit Flaggen und gelben Bändern standen. Ich hatte gelesen, dass immer Menschenmengen die Straße säumen, wenn ein gefallener Soldat heimgeholt wird. Dennoch waren meine Mutter und ich, und meine Vettern ebenfalls, vom schieren Ausmaß der Anteilnahme überrascht und gerührt. »Arme Mandy«, sagte meine Mutter jedes Mal, wenn wir uns einer Überführung näherten. »Wer hätte das gedacht?« Auf dem Luftstützpunkt hatte sie gesagt: »Arme kleine Amanda … Sie hat mich immer Tantchen genannt, noch als ranghohe Offizierin.« Dann fing sie zu weinen an, und ich legte den Arm um sie und merkte, dass mir ebenfalls die Tränen kamen. Immer wieder ging mir die Formulierung improvisierter Sprengkörper durch den Kopf, und das im Tonfall des Militärsprechers, der ein paar Tage zuvor die entsetzliche Nachricht überbracht hatte. Es war etwas zu Überraschendes und Spielerisches an dieser Wortwahl – man dachte an Springteufelchen, an Feuerwerke – , und wenn ich sie schon nicht vollständig aus meinem Bewusstsein tilgen konnte, wollte ich sie wenigstens umbauen, verlangsamen, ihr mehr Würde verleihen.
Zwei Tage später, als wir hier im tiefen Süden dieser nördlichen Provinz eintrafen, kam ganz Kingsville zu unserem Empfang: alle Highschool-Freunde von Mandy, die Frauen, die meine Mutter bei der Pflege meiner Tante während ihrer letzten Krankheit unterstützt hatten, der Bürgermeister und der Stadtrat und alle, die meinen Onkel gekannt hatten, als er noch hier gewesen war.
Aus Anlass dieses schrecklichen Ereignisses waren verschiedene Versuche unternommen worden, ihn zu finden. Don forschte Tag und Nacht im Internet, und Shane hatte sich mit Interpol in Verbindung gesetzt, sämtliche Botschaften wurden verständigt – es half alles nichts. Was wenig verwunderlich ist – schließlich ist er seit über zwanzig Jahren verschwunden. Er muss tot sein, sagte Don an einem unserer alkoholgetränkten Abende in dieser oder der folgenden Woche, sonst wäre er jetzt nach Hause gekommen. Er kann natürlich tot sein, dachte ich; aber wäre er denn zurückgekommen, falls er doch noch lebte und sogar in der Verfassung wäre zu reisen? Das Drama in der Nacht, in der ihr Vater verschwand, hatten weder Don noch Shane direkt mitbekommen. Auch Mandy nicht, zum Glück; das Nachspiel allerdings erlebten sie alle drei.
Ich hingegen war dabei gewesen, im Zentrum des Geschehens, zum falschen Zeitpunkt.
Und wohin wäre er überhaupt zurückgekehrt – gesetzt den Fall, er wäre dazu in der Lage gewesen? Von seinen älteren Verwandten waren alle tot, auch seine Frau war tot, und seine tote Tochter hatte sich unter den militärischen Ehren, mit denen sie überhäuft worden war, derart verwandelt, dass er wohl nicht einmal mehr seiner Erinnerung
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