Der Schmetterlingsbaum
auf einen Landeplatz. Das Bild dieses Baums hatten wir in uns, wenn der besondere Tag sich näherte, aber wir verloren kein Wort mehr darüber, bis der Schock des ersten Anblicks verebbt und der Baum und seine Bewohner ein Tatbestand geworden waren. Die Schmetterlinge sind wieder auf dem Baum. Mehr als alles andere war es diese Ankündigung, die das Ende der Saison einläutete, das Losungswort, das uns mitteilte, dass die Spiele des Sommers vorbei waren.
Seltsamerweise hinterfragten wir das Vorkommnis damals nicht. Den Aufbruch der Monarchfalter – den ich mir, nicht zu Unrecht, wie einen riesigen orangefarbenen Schleier über dem Baum vorstellte, der sich lüftete und dann in Richtung Ohio über den großen See davonschwebte – hatte niemand von uns je mit eigenen Augen gesehen. Sie überraschten uns, und dann waren sie fort. Wir waren mit Jugend gesegnet. Wir hatten keine Zeit zum Nachdenken.
Inzwischen bin ich alt genug, um Erklärungen zu verlangen, und misstrauisch gegenüber Unvorhersehbarkeit und subjektiven Eindrücken, und ich führe meine Feldforschung und meine Laborarbeit mit einer Akribie durch, von der ich mir damals, als ich im Bann jener Sommer stand, nicht hätte träumen lassen. Heutzutage dreht sich alles um aufgespießte Schmetterlinge, markierte Flügel und Langzeitaufzeichnungen.
Als ich an der Uni war und zum ersten Mal von der Markierung der Monarchfalter hörte, schien mir allein die Vorstellung, Klebstoff auf etwas so Zerbrechliches wie einen Schmetterlingsflügel aufzubringen, barbarisch. Inzwischen bin ich selbst eine Markiererin und Etikettiererin, eine Getriebene, die auch noch den letzten geheimnisvollen Umstand aufdecken muss, bis kein Geheimnis mehr übrig ist. Aber wie etwas so Handfestes und Beständiges wie die Welt meines Onkels – die ja auch unsere Welt war – innerhalb einer einzigen Nacht in Trümmer zerfallen konnte, das kann ich nicht erklären. Warum er ging, kann ich ja noch verstehen, zumindest teilweise, aber wohin er verschwunden sein könnte, ist mir ein Rätsel. Manchmal stelle ich ihn mir vor, wie er in Mexiko auf einem Bergesgipfel steht, ringsum lauter erschöpfte, ramponierte Schmetterlinge. Paarung erfolgt. Ende der Reise. Die Luft zu kalt zum Fliegen. Alles vorbei. Übrigens kommt kein einziger Monarchfalter je wieder zurück. Die Schmetterlinge des nächsten Jahres sehen zwar genauso aus wie die im Herbst aufgebrochenen, aber diejenigen, die wirklich zu uns kommen, sind ihre Urenkel, nachdem zwei Generationen vor ihnen innerhalb von jeweils sechs Wochen im Frühling von Texas und Illinois die Paarung vollzogen haben und gestorben sind. Die dritte Generation, die wir im Juni begrüßen, paart sich und stirbt sechs Wochen später genau hier, auf unseren eigenen Feldern und Wiesen von Ontario, nachdem sie die zähe vierte Generation gezeugt hat, die Methusaleme, die uns auf Bäumen wie der Zeder am Ende unserer Zufahrt überraschen und erstaunliche neun Monate leben, um den langen Rückflug bewältigen zu können. So weite Strecken und so viel Veränderung, so viel Tod und Geburt und Verwandlung innerhalb eines einzigen Jahres.
Die Möbelstücke aber, die mich jetzt umgeben, die Spiegel, die unsere Familiendramen einfingen – auch jene, die wir nie hätte miterleben sollen – , stehen unantastbar und unangetastet, wo sie immer standen. Mandys Geheimnis, ihr Weg in Zucht und Ordnung, Leidenschaft und Tod, bleibt ebenfalls unangetastet, ungelöst. Die perfekte Symmetrie der Augenbrauen eines Jungen kann ich so wenig erklären wie die exakte Zeichnung auf einem Schmetterlingsflügel. Und dann sind da noch das Geheimnis des mexikanischen Jungen selbst und das, was zwischen uns war und nicht war.
A ls dieser lang zurückliegende Sommer zu Ende ging, die Tage kürzer wurden und die Nächte kühler, als die letzten Tomaten geerntet und die ersten Äpfel gepflückt waren, sah ich einmal, wie mein Onkel meine Tante beobachtete. Sie trug eine dunkle Hose und eine fuchsienrote Weste über einer weißen Bluse. Ihr blondes Haar, straff zurückgekämmt, verbarg nichts von ihrem gemeißelten Gesicht, das nur ganz zart geschminkt war: nur Lidschatten und Lippenstift, blau und rot. Das zierliche goldene Armband einer kleinen Uhr umschloss ihr linkes Handgelenk und rutschte bei jedem Heben und Senken des Arms leicht hin und her. Jede Geste, wenn sie sich vorbeugte, um Teller abzuräumen, oder sich umwandte, um mit einem ihrer Kinder zu reden, war eine Studie in Anmut.
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