Der Schmetterlingsbaum
S chauen Sie aus dem Fenster.
Die Anbauflächen dieser Farm sind mittlerweile so vollständig verwildert, dass mir schon Zweifel kommen, ob die Felder und Plantagen je außerhalb meiner Erinnerungen, meiner Fantasie existiert haben. Als ich Anfang zwanzig war, hatte sich das Gelände bereits verändert – fast bis zur Unkenntlichkeit – , die Baracke der Arbeiter verfiel, die Obstbäume blieben unbeschnitten und trugen deshalb kaum Früchte. Aber das war in der Zeit, als meine Tante anfing, einzelne Parzellen von ihrem Grund abzutrennen und an Bauunternehmer zu verkaufen; ein Schritt auf dem Weg in eine Art Zukunft, glaubte ich damals, zumindest eine finanzielle Zukunft für sie, auch für meine Mutter, die unterdessen ebenfalls hergezogen war. Meine Tante ist jetzt tot, und meine Mutter lebt an einem Ort, der sich The Golden Field nennt, was ja nur ironisch gemeint sein kann, zumal mit Blick auf das einzige Feld, das es dort noch gibt, und sein düsteres Grau im schwindenden Licht.
Sicher, manche Spuren der Vergangenheit hielten sich noch eine Weile: die Lattenzäune, die von einem der »Alten Urure« stammten, wie mein Onkel sie zu nennen pflegte, und der eigenartige Steinhaufen aus den von den Äckern geklaubten Feldsteinen. »Die erste Ernte im Jahr ist die Steinlese«, lautete die Botschaft an uns, die faulen Nachkommen. Mein Onkel wiederholte sie oft, obwohl er in seinem Leben auch nur noch wenig gepflügt hatte. Letztlich seien viele Feldsteine für den Bau dieses geräumigen Farmhauses verwendet worden, erzählte er uns, dieses Haus, das fest und beständig an seinem Platz steht, seitdem es errichtet wurde; das war um die Mitte des blühenden neunzehnten Jahrhunderts.
Aber die allererste Ernte muss, meinem Onkel zufolge, das Massaker an vielen Hektar Wald gewesen sein, das notwendig war, bevor man dort überhaupt Land bestellen konnte, ob Steinacker oder goldenes Feld. Ich meine mich zu erinnern, dass in meiner Kindheit noch Spuren von dem flachen Fundament des ursprünglichen Blockhauses, in dem die waldrodenden Pioniere gewohnt haben müssen, zu erkennen waren. Die waren allerdings so versteckt, dass nur jemand wie mein Onkel sie finden, zeigen und einen nachdrücklich zur angemessenen Würdigung auffordern konnte. Ich weiß noch, wie er Teo auf die paar verstreuten Steine aufmerksam machte, und Teo stand neben ihm, starrte gehorsam zu Boden und blickte dann fragend zu mir her; wahrscheinlich versuchte er mich, die verwöhnte Städterin, irgendwo in den rauen Geschichten unterzubringen, die ihm mein Onkel über die Gegend hier erzählte. Tote Kleinkinder, junge Männer, die in Schneestürmen verlorengingen, durch Unwetter stolpernde Pferde. Teo lauschte höflich, seine braunen Augen ruhten auf dem ansehnlichen Gesicht meines Onkels, aber in der feuchten Sommerhitze der achtziger Jahre, als die Farm ein florierender Betrieb war, müssen diese Geschichten einem Kind wie ihm völlig unglaubwürdig erschienen sein.
Abends, wenn ich mein spärliches Geschirr abgespült habe, kommt es vor, dass ich die prächtigen Möbel dieses alten Hauses betrachte, eine Sammlung kalter Artefakte. Obwohl ich mit jedem Tisch, jedem Stuhl vertraut bin, obwohl ich weiß, dass die Hände, die sie entweder kauften oder bauten – und die Körper, die sie berührten – , mich zu dem gemacht haben, was ich bin, scheinen sie aus einer Kultur zu stammen, die so kurzlebig und fragil war, dass niemand mehr ihre Merkmale aufzählen, geschweige denn für ihren Fortbestand sorgen kann. Diese massiven, von meinem Onkel und seiner Frau so geschätzten und gepflegten, bei der Entwicklung der Fami liengeschichten so ausführlich besprochenen Gebilde stehen jetzt in der einen oder anderen Ecke, so tot wie der Großvater, die Großtante, die ferne Verwandtschaft, die sie mit einer Geschichte und einer Bedeutung ausgestattet haben. Heute frage ich mich, wenn ich manchmal nachts wachliege, für wen ich all diese Uhren eigentlich aufziehe, warum ich beharrlich Bilder und Spiegel abstaube. Wie ein Verstorbener ungewisser Abstammung in einem unentdeckten Grab habe ich alle Ausstattung, alle Beigaben, die ich im Jenseits brauchen werde, sorgfältig um mich aufgeschichtet. Nur dass ich lebendig bin und vierzig Jahre alt. Und im Unterschied zu Ihnen glaube ich nicht an ein Leben nach dem Tod.
Noch etwas. Weil meine Tante Glas liebte und infolgedessen auch das Spiel des Lichts, ist dieses Haus voller Spiegelungen. Wenn man es am wenigsten erwartet,
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