Der Schmetterlingsbaum
Diese Heiterkeitsausbrüche gingen oft auf Kosten meines Onkels, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er das nie mitbekam. Was unserer Liebe zu ihm keinen Abbruch tat. Ich glaube, wir versuchten uns ein wenig von seiner Macht und seiner Präsenz zu befreien, die uns von frühester Kindheit an beherrscht hatten. Oder es war der Versuch, uns ein Stück weit von dem genetischen Erbe zu distanzieren, auf dem er beinahe täglich herumritt. Aber das war uns damals sicher nicht bewusst. Wir waren Teil der Familie. Hätte uns jemand gefragt, hätten wir vermutlich darauf beharrt, dass das Land unter unseren Füßen von unseren Vorfahren geschaffen worden war, denn ohne sie hätte es keine Obstplantagen gegeben und ohne Obstplantagen langfristig kein Auskommen.
Ja, nachdem ich ihnen auch beim Verkümmern und Eingehen zugesehen habe, weiß ich jetzt einiges über Obstpflanzungen. Von der Kürze ihres Lebens kann ich ein Lied singen. Sechzehn Jahre, maximal, sagte mein Onkel zu uns und jedem, der ihm zuhörte. Gute Früchte trägt der Baum zwischen dem dritten und dem zwölften Jahr, dann geht der Ertrag nach und nach zurück. Wenn die Saison vorbei war, wurden die »alten« Bäume von den wenigen Mexikanern, die noch für die restlichen Arbeiten geblieben waren, beschnitten und ausgedünnt. Teo gehörte nie dazu; er war zu dem Zeitpunkt immer schon mit seiner Mutter nach Hause und wahrscheinlich in die Schule zurückgekehrt. Aber in diesem letzten Sommer hatte ich erfahren, dass er im April schon da gewesen war, frühzeitig genug, um die Berge von ausgeholztem Gestrüpp und Abfällen des Vorjahres zu verbrennen. Ich kam ja immer erst Ende Juni auf die Farm, aber von dem Feuer erzählte er mir, als ich mit meiner Mutter aus der Stadt eintraf.
Als mich ein Auftrag vom Schutzgebiet-Forschungszentrum hierherführte und ich das Haus übernahm, gab es noch eine letzte heruntergekommene Pfirsich- und Apfelbaumpflanzung, und ein paar Bäume darin trugen sogar noch. Die Kirschplantagen am See waren gleich zu Beginn an Bauunternehmer verkauft worden, die Stämme hatte sich ein Sägewerk geholt. Das Tomatenfeld hinter dem Haus füllte sich nach und nach mit Wildblumen und – zum Glück für mich und die Schmetterlinge – mit Seidenpflanzen. Ich versuchte ein halbes Dutzend Apfelbäume ohne Hilfe der Spritzmittel, die ich wegen ihrer Schädlichkeit für die Schmetterlinge zu hassen gelernt hatte, am Leben zu halten, aber die Bäume trugen nicht mehr. Und dann hielt in ihrem Holz natürlich anderes Leben Einzug, und die Plantagen starben nach und nach ab.
Was die Monarchfalter angeht, so wussten wir in den ersten Sommern gar nicht, wo sie herkamen oder – je nach Sichtweise – wohin sie verschwanden. Wir nahmen sie einfach als selbstverständliche Begleiterscheinung des Sommers hin, wie unser Obst, wie die Erdbeeren oder Maiskolben, die am Straßenrand verkauft wurden, oder eben auch die Mexikaner. Es dauerte Jahre, bis die Mitarbeiter der Forschungsstation an der Landzunge die Schmetterlinge zu markieren begannen, um dem Verlauf ihrer Wanderungen zu folgen, und weitere Jahre dauerte es, bis der Ort, an dem die Exemplare aus unserer Region überwinterten, in mein Blickfeld geriet.
Aber jeden Sommer staunten wir neu über den Schmetterlingsbaum, wie wir ihn nannten. In den dazwischenliegenden Monaten, wenn uns der Winter im Griff hatte und wir von Schule und allerlei anderen Beschäftigungen in Anspruch genommen waren, vergaßen wir das Schauspiel immer wieder, so dass es jedes Mal, wenn wieder ein Sommer zu Ende ging, ein überraschendes Geschenk war: ein Herbstbaum, der sich in einen brennenden Dornbusch verwandelt – eine gewöhnliche Zeder lodernd von Flügelgeflatter. Wenn wir vom Haus unsere Zufahrtsstraße entlangblickten, war unser erster Gedanke immer, dieser eine Baum sei über Nacht orange geworden, während das Laub ringsum noch sein Sommergrün bewahrt hatte; aber noch bevor das Phänomen vollständig in unser Hirn eingedrungen war, fiel uns wieder ein, dass wir es ja schon von früher kannten.
Nicht, dass die Schmetterlinge nicht schon den ganzen Sommer da gewesen wären: Einen oder zwei sah man immer in der Nähe von Blüten durch die Luft tanzen und Nektar trinken. Aber nie traten sie in derart atemberaubender Zahl auf, bis der Tag des Schmetterlingsbaums kam. Diese Heerschar, dieses dichtgedrängte Geflatter bedeckte jeden Zentimeter Nadeln und Rinde oder umschwebte den Baum in nächster Nähe in der Hoffnung
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