Der Schneekönig
Zungenspitze benetzte die Oberlippe, dann sprach sie weiter. „Also beschloss ich, meine Taktik zu ändern. Es musste eine Frau her, der es gelingt, das Herz meines Bruders zu erwärmen, mit Liebe zu durchtränken, sodass er mir nicht mehr dazwischenfunken kann. Und so suchte ich fortan nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die ich für geeignet hielt. Wie praktisch, wenn mir dabei ein Geschwisterpaar unterkommt.“ Für einen Moment erhellte sich ihr Blick, ihre Augen begannen mit den Schmucksteinen, die ihr Kleid verzierten, um die Wette zu funkeln. „Ich habe gewusst, dass du deinem Bruder folgen wirst. Also konnte ich mir einen Teil der Arbeit sparen.“
„Wie geht es Simon?“
„Nun, dein Bruder ist nicht mehr der, der er einmal war, was ich zutiefst bedaure. Nie zuvor habe ich etwas so sehr bedauert, denn ihm bin ich mehr zugetan als irgendwem je zuvor. In ihm steckte eine Wärme, die mein Herz mit mehr Zeit hätte erreichen können.“ Sie erhob sich, trat auf Amelie zu. „Aber du kannst ihn retten. Kannst unsere Liebe retten, die nach wie vor in ihm steckt, aber mehr und mehr zu vereisen beginnt. Erobere das Herz meines Bruders, das so kalt und eisig ist, dass selbst meine Träume mehr und mehr daran erfrieren. Nur wenn es dir gelingt, das Herz des Schneekönigs zu erwärmen, wird es Hoffnung geben.“ Dem letzten Satz verlieh sie besonderen Nachdruck.
„Wieso sollte ausgerechnet mir das gelingen?“
„Weil in dir und in deiner Liebe zu Simon ein loderndes Feuer brennt, einer Macht gleich, die neue Hoffnung schenkt.“
„Ich will gerne alles tun, um meinen Bruder zu befreien. Nur ... wie soll ich jemandem, dessen Herz aus Eis ist, wahre Gefühle entlocken?“
„Wüsste ich einen Weg, ich hätte ihn längst eingeschlagen. Auch ich bin am Ende meiner Vorstellungskraft. Dennoch muss er innerhalb von sieben Tagen in Liebe zu dir entbrennen, nicht genug von dir bekommen bis in alle Ewigkeit. Sollte es dir innerhalb dieser Frist nicht gelingen, ihm – tief aus dem Herzen kommend – die drei Worte ‚Ich liebe dich’ zu entlocken, seid ihr für immer verloren.“
„Aber ...“ Amelie wurde mit einer ungeduldigen Handbewegung unterbrochen.
„Es ist keine Zeit für weitere Fragen. Du möchtest, dass dein Bruder freikommt? Dann tu was ich von dir verlange. Versuche es zumindest. Du findest die Gemächer meines Bruders drei Stockwerke höher hinter der Eisgalerie.“
Licht flackerte über die Eiswände, als Amelie die steile Wendeltreppe Stufe für Stufe erklomm. Das Leuchten und Funkeln blendete sie.
Bald hatte Amelie die Etage erreicht, in der sie den Schneekönig finden sollte, und je höher sie stieg, umso eisiger wurde es. Schneeflocken stoben durch den Korridor, ein frostiger Windhauch heulte ein schauriges Lied und irrte durch die verwinkelten Ecken. Eiskristalle blitzten sie aus jeder Ecke bedeutungsvoll an, ganz so, als hätten sie etwas zu erzählen, das seit Jahrtausenden tief in ihnen eingeschlossen war.
Unbehagen ergriff von Amelie Besitz. Sie blieb stehen, setzte dann jedoch wieder langsam einen Fuß vor den anderen – schließlich blieb ihr keine andere Wahl.
Als sie vor der Tür stand, von der sie wusste, dass es das Reich des Schneekönigs war, klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
Was sollte sie ihm sagen? Ihn in ihre Not einweihen? An sein Herz appellieren?
Was für ein Blödsinn
, schalt sie sich selbst.
Er hat doch gar kein Herz. Höchstens eines aus Eis
.
Sie atmete tief durch, stieß die Tür auf und betrat ein riesiges, rundes Turmzimmer. Durch die Fenster fiel Licht hinein und beleuchtete die mit einem Deckengemälde versehene Dachkuppel.
Ein überirdisch schöner Mann – mit Augen so tief, kalt und blau wie der Eissee und Haaren so silbern wie die zwei Monde – saß lässig auf einem Eisthron. Unnahbar, stolz, mit einem arroganten Zug um den Mund. Seine Statur war schlank. Er trug ein weißes Hemd, und seine Beine steckten in dunklen Hosen, deren Stoff dezent und elegant glänzte.
Mit hochgezogener Augenbraue beobachtete er zwei junge Frauen, die für ihn tanzten und sich alle Mühe gaben, ihm zu gefallen. Die Tänzerinnen bewegten sich graziös und gaben sich wie in Trance ganz der Musik hin. Die Augen geschlossen, die feuchten Lippen leicht geöffnet, strahlten sie etwas Verletzliches aus.
Eine von ihnen trat auf ihn zu, beugte sich vor und legte ihm einen Finger auf den Mund, umfuhr die Kontur seiner Lippen und lächelte verführerisch. Ein Ausbund an
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