Der Schneekönig
Licht an die weißen, von vielen Fensterbögen und Simsen unterbrochenen Eismauern und Decken, die mit Stuck aus gepresstem Schnee versehen waren. Suchend inspizierte sie den Raum. Auf einem runden Tisch blühten Eisrosen in einer Kristallvase, und unter dem Fenster sah sie einen hohen Lehnsessel stehen. Ihr Blick wanderte weiter über einen fantasievoll verzierten Frisiertisch unmittelbar neben dem Bett. Auf der Seite zum Balkon lud eine weiß bezogene Garnitur zum Sitzen ein. An der Wand gegenüber standen ein großer Schrank und in der Ecke daneben ein Sekretär aus dunklem Holz.
Niemand außer ihr befand sich im Raum. Still und leise hatte der Schneekönig den Raum verlassen. War das die Ruhe vor dem Sturm? Was sollte sie jetzt tun? Sie atmete tief ein, versuchte sich zu beruhigen. Ihr Magen hatte sich in einen kalten Klumpen verwandelt, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Diese Ungewissheit war schlimmer als das, was eventuell noch auf sie zukommen könnte.
Sie stand auf, wanderte ruhelos im Zimmer hin und her. Sie wünschte sich zumindest ansatzweise zu wissen, was in den nächsten Tagen geschehen würde. Was genau von ihr erwartet wurde ... ob es eine Chance gab, ihren Bruder und sich zu befreien. Diese Ungewissheit glich einer Ohnmacht, und ohnmächtig zu sein war gleichbedeutend wie gelähmt sein. Ein unerträglicher Zustand für jemanden wie Amelie, die es gewohnt war, den Dingen auf den Grund zu gehen, anzupacken, was anzupacken war, Probleme zu erkennen und zu beseitigen. Sie seufzte, trat zum Fenster und dachte angestrengt nach. Doch ihre Überlegungen kamen zu keinem hilfreichen Schluss.
Ein dichter Schleier zog sich über den zwei Monden zusammen, und Dunkelheit breitete sich über die ewige Eislandschaft.
Schlaf ... sie könnte etwas Schlaf brauchen. Das Bett, das in seidigen Kissen fast ertrank, lud förmlich dazu ein. Leider war ihr der Rucksack bei der Flucht vor dem Schneekönig abhanden gekommen. Sie besaß also nichts, nur das, was sie am Leib trug.
Auf der Suche nach einem Nachtgewand öffnete sie den Kleiderschrank. Ein verführerischer Blumenduft strömte ihr entgegen, als sie die seidigen Stoffe der Kleider, die sich darin befanden, betastete. Amelie zog ein zartgrünes Nachthemd heraus und hielt es vor sich. Ein Stoff zum hineinschmiegen.
Das angrenzende Badezimmer entlockte ihr, trotz ihrer Anspannung, einen Freudenschrei. Die große, in den Boden eingelassene, elfenbeinfarbene Wanne war ein wahrer Blickfang. Umgeben von einer Vielzahl Eisrosen lud sie ebenso zum stundenlangen Bad ein, wie die mit flauschigen Badetüchern gefüllten Regale. Skulpturen aus Eis, die allesamt aus einem alten, verwunschenen Märchen zu stammen schienen, zierten die vier Ecken des Raumes.
Wenig später lag Amelie träge im lauwarmen Wasser.
Langsam lösten sich die Verspannungen der letzten Stunden und machten neuem Mut Platz. Sie würde es schaffen, ihren Bruder zu erlösen. Und damit auch sich. Nur eine Lösung hatte sie noch nicht. Auf keinen Fall hatte sie die Absicht, untätig dazusitzen oder gar in Ehrfurcht zu erstarren, wenn der Schneekönig das Wort erhob. Er würde sie schon noch kennenlernen und spüren, dass ihr Dickkopf härter sein konnte als die kompakteste Eiswand.
Das Bad tat ihr gut. Sie ließ sich von dem Wasser tragen, bewegte nur ein wenig die müden Beine, und ihr langes Haar verteilte sich schwerelos um ihren Kopf. Wohlig reckte sie sich, dehnte ihren Leib, durchbrach mit der Brust die Wasseroberfläche. Die kühle Luft des Raumes bot einen anregenden Kontrast zur einlullenden Wärme des Badewassers, verlieh der Haut, die sich oberhalb des Wassers befand, einen rosigen Schimmer. Ihre Brustwarzen verhärteten sich, spielerisch drückte sie ihren Oberkörper weiter über die Wasserlinie. Sie schloss genüsslich die Augen, ließ sich von ihren Haarsträhnen streicheln, ließ ihre Fingerspitzen sanft über ihren Bauch tanzen und glitt hinüber in einen sanften Schlaf.
Den Schneekönig, der im Türrahmen stand und sie stumm beobachtete, bemerkte sie nicht. Als das Wasser abkühlte, begann sie zu frösteln, schlug die Augen auf und griff nach dem großen, flauschigen Badetuch, das sie sich an den Rand gelegt hatte. Sie erhob sich, wickelte sich das Tuch so um den Körper, dass sie von den Schultern bis zu den Knien bedeckt war, während sie mit ihren Füßen noch im Wasser stand.
Amelie wollte sich gerade den Oberkörper trockenreiben, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung
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