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Der Schneekönig

Der Schneekönig

Titel: Der Schneekönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Martini
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mobilisierte Amelie ihre gesamten Kräfte, trat ihm gegen das Schienbein und riss sich los.
    Sie eilte zur Tür, riss sie auf und rannte so schnell es ihre Beine erlaubten davon. Sie lief, als sei der Teufel persönlich hinter ihr her. Weiter und immer weiter, nahm zwei Stufen gleichzeitig, stolperte, rappelte sich wieder auf und lief weiter, ohne zu wissen, wohin sie sollte.
    In einem Raum, der wie eine Ahnengalerie aussah, blieb sie kurz stehen, um nach Luft zu schnappen. Ihr war schwindelig, in ihren Ohren begann es zu rauschen, und ihr klopfendes Herz stolperte vor Überanstrengung. Sie fühlte sich, als würde eine Schnur um ihren Hals zugezogen. Der anstrengende Tag forderte seinen Tribut, ihr wurde schwarz vor Augen. Sie taumelte und kam erst wieder zu sich, als sie auf einer der Kommoden saß, die entlang der Wand standen, und zwei Hände sie festhielten, damit sie nicht nach vorn kippte.
    Sie blinzelte, öffnete die Augen und sah in zwei blaue Augen, die spöttisch aufblitzten.
    „Mir scheint, ich bin von einem Moment zum anderen alt und hässlich geworden, oder wie ist es möglich, dass ein weibliches Wesen vor mir flüchtet und dabei zu guter Letzt auch noch in Ohnmacht fällt? Normalerweise löse ich bei den Damen wahres Entzücken aus.“
    „Lasst mich!“ Diese Worte brauchten eine halbe Ewigkeit, ehe sie sich über ihre Lippen quälten. Sie war erschöpft.
    „Hier, trink erst mal.“ Er hielt ihr ein Glas Wasser hin. „Aber nicht zu hastig, sonst zerspringt dir noch dein Herz.“
    Amelie fühlte sich tatsächlich so, als würde ihr Herz jeden Moment in unzählige Stücke zerbersten. Dennoch reckte sie trotzig ihr Kinn vor: „Ich brauche keinen Vormund und auch nichts zu trinken. Ich möchte nur so schnell wie möglich mit meinem Bruder zusammen von hier verschwinden.“
    Ein gefährliches Glimmen trat in seine Augen. „Noch immer nicht genug gekämpft, kleine Löwin?“
    Ihr Kopf schmerzte, das Rauschen in ihren Ohren wollte einfach nicht vergehen, und so seufzte sie nur müde: „Mir ist alles andere als zu kämpfen zumute.“ Mit bleichen Wangen und mattem Blick schaute sie an ihm vorbei, entlockte ihm ein erstauntes Stirnrunzeln, denn er hatte sich auf eine Fortsetzung dieses Wortgefechts gefreut. Sogar sehr gefreut.
    Der Streit mit ihr hatte ihn erfrischt wie schon lange nicht mehr. Er wollte mehr davon. Aber erst sollte sie zu Kräften kommen.
    Er hob sie hoch, als wäre sie leicht wie eine Feder, und warf sie sich über die Schulter. Bevor sie ihrer Überraschung Herr werden konnte, war er schon mit ihr zu einer Treppe unterwegs, die mit einem kunstvoll verzierten Geländer ausgestattet war. Sie führte ein Stockwerk hinab, wand sich in engen Linien um eine Eissäule. Amelie konnte nicht sehen, wohin er sie trug, denn sein Rücken versperrte ihr die Sicht.
    „Was soll das? Was habt Ihr vor? Ich will zu meinem Bruder! Hört Ihr? Bringt mich sofort zu meinem Bruder!“
    Statt sich an seinem Hemd festzuhalten, um den unangenehmen Schaukelrhythmus ihres Körpers ein wenig zu mildern, trommelten ihre Fäuste pausenlos gegen seinen Rücken.
    „Schschscht ...“, erwiderte der Schneekönig belustigt-besänftigend und quittierte ihr empörtes Zetern mit einem amüsierten Lachen.
    Amelie glaubte, nicht richtig zu hören. Er lachte sie aus ... lachte sie tatsächlich aus.
    „Ihr seid ein ... ein ... Ungeheuer! Wenn Ihr mich nicht sofort loslasst, dann ...“
    Sie brach ab, denn sein Lachen schwoll an, hallte tausendfach von den Eismauern zurück.
    „Was dann? Wirst du mich einsperren lassen? Mich bestrafen?“ Sein Ton war unverschämt ironisch. „Schimpf ruhig weiter, denn so wird es mir wenigstens nicht langweilig.“
    „Lasst mich, verdammt nochmal, runter“, versuchte sie es erneut, während er mit dem Fuß eine Tür aufstieß.
    „Du willst runter? Ganz wie du meinst!“
    Und dann ließ er sie los. Ließ sie einfach fallen – an Ort und Stelle fallen.
    Ein spitzer Schrei kroch aus ihrer Kehle. In Erwartung des Aufpralls hob sie innerhalb von Sekundenbruchteilen schützend ihre Hände über den Kopf und kniff die Augen zusammen. Sie landete auf dem Rücken ... doch der Schmerz blieb aus.
    Mit halb geschlossenen Lidern richtete sie sich etwas auf und blickte sich um. Sie lag auf einem riesigen Bett – einem Bett mit einem hohen, spitzen Himmel aus zartem Stoff, dessen Muster einen mit Nordlichtern durchzogenen Himmel zeigte. Ein Beleuchtungskörper aus Rosenquarz warf ein einladendes

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