Der Schneider himmlischer Hosen
nicht einmal im trockenen Pekinger Winter seine Locken verlor. Es besaß jenen goldenen Schimmer, von dem die Märchen erzählen. Ihre Augen waren dunkler als die Augen blondhaariger Menschen im allgemeinen. Es waren italienische Augen: grau, still und sanft.
Auf der Stirne, gerade oberhalb der linken Braue, hatte sie ein Muttermal, dunkelrot und von der Form des zunehmenden Mondes. Wenn man Kuniang einmal kannte, dann fiel dieser Schönheitsfehler, der sie übrigens keineswegs entstellte, nicht weiter auf. Die Chinesen geben nur allzugern Spitznamen, die sich auf körperliche Eigenheiten beziehen; und so fanden sie auch für Kuniang bald einen solchen Namen. Sie nannten sie: Fan-go Kuniang — Mondfee.
Während eines Wolkenbruches, wie sie in der Regenzeit an der Tagesordnung sind, suchten Kuniang und der Kleine Lu in einer Rumpelkammer im zweiten Hof Schutz, gegenüber dem Pavillon, der für Gäste bestimmt ist. Inmitten von leeren Kisten, Koffern und altem Hausrat entdeckten die Kinder eine Schreibmaschine, die ich seit vielen Jahren nicht mehr benützte. Kuniang empfand sofort das leidenschaftliche Bedürfnis, darauf zu schreiben, und nahm im Lauf des Tages ihren ganzen Mut zusammen, um mich zu fragen, ob sie es tun dürfe. Anscheinend war das Zeug noch immer in Ordnung, so gab ich die erbetene Erlaubnis, ließ die Maschine von Unvergleichlicher Tugend säubern, schmieren und nebst Schreibpapier auf ein Tischchen stellen.
Kuniang mußte ihrem Vater die Geschichte erzählt haben, denn als er das nächste Mal in Peking war, kam er zu mir und bat um Entschuldigung. Offenbar hatte er Angst, die Kleine könnte mich belästigen. Ich versicherte ihm, daß alles in schönster Ordnung sei, und bestätigte meine Erlaubnis.
Von jenem Tag an wurde Kuniangs Morra-Spiel mit dem Kleinen Lu durch Versuche im Maschinenschreiben unterbrochen, und ich hörte oft das zögernde Tap-Tap der Tasten, wenn sie sich in der neuen Kunst übte. Eines Nachmittags traf ich sie vor der Rumpelkammer, in der die Schreibmaschine des täglichen Gebrauches harrte, und fragte, ob sie Stenotypistin werden wolle. Dieser Beruf ist in China glänzend bezahlt und führt oft zum Altar.
Kuniang verneinte die Frage, teilte mir aber mit, sie habe die Absicht, eine Yao Ch’er zu werden.
Ich glaubte, falsch verstanden zu haben. Yao Ch’er bezeichnet in chinesischer Sprache einen uralten und keineswegs ehrenhaften Beruf — den ältesten, der einer Frau offensteht.
« Was willst du werden?» rief ich entsetzt.
«Eine Yao Ch’er», erwiderte Kuniang vertrauensvoll.
«So. Und wer hat dich auf diese Idee gebracht?»
«Der Kleine Lu.»
«Der Kleine Lu? Was weiß denn der davon?»
Ich tat möglichst harmlos, denn hätte ich meiner sittlichen Entrüstung Ausdruck verliehen, wäre es mit dem Vertrauen des armen Kindes aus gewesen. Offenbar darf man nicht einmal mehr von kleinen Kindern Ahnungslosigkeit in gewissen Dingen verlangen, wenn sie unter einem Volk des Ostens aufwachsen. Wie Anatole France so schön sagt: «L’innocence n’est pas une vertu, c’est un bonheur.»
Kuniang erklärte:
«Der Kleine Lu ist mit seinen Eltern in einem der Häuser außerhalb des Chien-Mên (eines der Tore in der Tatarenmauer) gewesen, wo Mädchen angestellt sind.»
«Was hat der Kleine Lu dort zu suchen?»
«Die Chinesen gehen hin, um während der Feier des Neujahrsfestes dort Tee zu trinken, sobald sie im Tempel gewesen sind und ihre Schulden bezahlt haben.»
«Und die Kinder werden mitgenommen?»
«Ja. Es soll dort sehr lustig sein. Ich wollte, sie hätten mich auch mitgenommen. »
Kuniangs Erzählung entsprach den Tatsachen. Später erkundigte ich mich bei Unvergleichlicher Tugend und erfuhr, daß er sich an der Expedition nach dem genannten Haus beteiligt hatte: seine Brüder, seine Frau und die Kinder waren mitgewesen. Dem Kleinen Lu machte der Ausflug viel Spaß; er erzählte seiner Freundin davon und brachte sie auf den Gedanken, es den Damen gleichzutun, die er beschrieb.
«Aber das ist bestimmt kein leichter Beruf», erklärte mir Kuniang und seufzte.
3
Tagsüber schlafe ich selten, außer im Hochsommer; aber einmal hatte ich einen langen Ritt hinter mir, zum Tempel der Blauen Ziegel im Süden der Chinesenstadt, und zudem war mein Lunch reichlich und gut gewesen. Also legte ich mich gegen drei Uhr auf den Diwan im Arbeitszimmer, um die «Peking Gazette» zu lesen. Die Tagesneuigkeiten (man schrieb den 13. März 1913)
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