Miles Flint 01 - Die Verschollenen
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S ie musste alles zurücklassen.
Ekaterina Maakestad stand im Schlafzimmer ihres im Queen-Anne-Stil erbauten Hauses und presste die Hände zusammen. Durch das Fenster waren die viktorianischen Gebäude eines der ältesten Viertel von San Francisco zu sehen. Als wäre alles in Ordnung, hatte Ekaterina Maakestad an diesem Morgen das Bett gemacht. Die Steppdecke, ordentlich zusammengefaltet am Fußende, wo sie darauf wartete, dass jemand sie hochziehen würde, um sich zu wärmen, hatte ihre Ururgroßmutter angefertigt, eine Frau, an die sie sich nur vage erinnerte. Der Schaukelstuhl in der Ecke hatte Generationen von Maakestads geschaukelt. Ekaterinas Mutter hatte ihn den ›Stillstuhl‹ genannt, weil so viele Frauen dort gesessen und ihre Babys gestillt hatten.
Ekaterina würde nie die Chance bekommen, das zu tun. Sie hatte keine Ahnung, was aus dem Stuhl werden würde oder aus dem geerbten Schmuck in dem Tresor im Erdgeschoss oder aus den Fotografien, die schon so alt waren, dass sie in den Augen der meisten Leute bereits Sammlerwert besaßen, die aber ihre Familie repräsentierten: Menschen, mit denen sie durch ihr Blut, durch äußerliche Ähnlichkeit und durch leidenschaftliche Träume verbunden war.
Ekaterina war die Letzte aus dem Geschlecht der Maakestads. Keine Geschwister, Cousins und Cousinen, die all das hätten übernehmen können. Ihre Eltern waren schon vor langer Zeit verstorben, ebenso wie ihre Großeltern. Als sie das Haus, nach ihrer Rückkehr aus Revnata, jener Menschenkolonie im Territorium der Rev, eingerichtet hatte, hatte sie vorgehabt, hier ihre eigenen Kinder großzuziehen.
Unten wurde eine Tür geöffnet, und Ekaterina erstarrte. Sie wartete darauf, dass das Haus ihr das Erscheinen eines Besuchers verkündete. Aber das Haus würde nichts dergleichen tun. Sie hatte das Sicherheitssystem abgeschaltet, wie man es ihr gesagt hatte.
Ekaterina drehte den Verlobungsring an ihrer linken Hand, und der antike Diamant funkelte in dem künstlichen Licht. Sie hätte den Ring abnehmen sollen, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. Sie würde bis zur letzten Minute warten, ehe sie den Ring abgeben würde. Ließ sie ihn zurück, würde jeder wissen, dass sie freiwillig verschwunden war.
»Kat?« Das war Simon. Er hätte nicht hier sein sollen.
Ekaterina schluckte schwer; sie spürte einen Kloß im Hals.
»Kat, alles in Ordnung mit dir? Das System ist abgeschaltet?«
»Ich weiß.« Ihre Stimme klang normal. Erstaunlich, dass sie das fertigbrachte, bedachte man ihr Herzklopfen und den stoßweisen Atem.
Sie musste ihn hier herausschaffen, und zwar schnell. Simon durfte nicht mehr hier sein, wenn sie kamen, sonst würde auch er alles verlieren.
Die Treppe knarrte. Simon war auf dem Weg nach oben, zu ihr.
»Ich bin gleich unten!«, rief Ekaterina. Sie wollte nicht, dass er heraufkam, wollte ihn nicht noch einmal hier oben sehen.
Mit der rechten Hand strich sie ihr blondes Haar glatt. Dann straffte sie die Schultern und setzte ihre Gerichtssaalmiene auf. Sie hatte sich Simon gegenüber schon früher abgelenkt und anderweitig beschäftigt gezeigt. Vermutlich würde er glauben, heute wäre es genauso.
Ekaterina verließ das Schlafzimmer, ging die Treppe hinunter und zwang sich, ruhig zu atmen. Während der letzten Woche hatte sie ihn nicht gesehen – hatte vorgegeben, zu viel zu tun zu haben, eine Reise und einen schwierigen Fall erfunden. Die ganze Zeit über hatte sie versucht, diesen Moment zu umgehen.
Am ersten Treppenabsatz beschrieb die Treppe einen Bogen, und Ekaterina konnte Simon an der Eingangstür stehen sehen. Simon war kein schöner Mann. Er nutzte keinerlei Modifikationen, und er mochte sie auch nicht – nicht an sich und nicht an irgendeinem anderen Menschen. Folglich wurde sein Haar oben auf dem Kopf allmählich dünner, und er war untersetzt, obwohl er Sport trieb.
Aber sein Gesicht war voller Lachfältchen. Anstelle von kosmetisch gutem Aussehen, verfügte Simon über einen apart verknautschten Reiz, beinahe wie ein altes Lieblingshemd oder eine Steppdecke, die seit mehr als einhundert Jahren am Fußende des Betts ruhte.
Er lächelte Ekaterina zu, und seine dunklen Augen funkelten. »Ich habe dich vermisst.«
Ihr Atem stockte, aber sie zwang sich, das Lächeln zu erwidern. »Ich dich auch.«
Simon hielt Blumen in den Händen, einen großen Strauß lilafarbenen Flieders, dessen Geruch zu ihr aufstieg, um sie zu begrüßen.
»Ich wollte nur das hier
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