Der Schneider
Straßenecke steht und mit demselben Schild für zweihundertfünfzig Dollar einen Schaukelstuhl zum Verkauf anbietet. Dann wieder durch Nebenstraßen, Mark wird heute als erster abgesetzt, und weiter durch das stinkende Inferno der Manuel Espinosa Batista, vorbei an der National-Universität, wehmütige Blicke auf langbeinige Mädchen in weißen Blusen und mit Büchern unterm Arm, Pendel grüßt die kitschige Pracht der Kirche del Carmen – guten Morgen, lieber Gott –, überquert todesmutig die Vía España, verschwindet mit einem Seufzer der Erleichterung in der Avenida Federico Boyd, gelangt durch die Vía Israel auf die San Francisco, schiebt sich mit der Menge zum Flughafen Paitilla, grüßt die Damen und Herren vom Drogenhandel, denen die meisten der zahlreichen neben den baufälligen Gebäuden parkenden hübschen kleinen Privatflieger gehören, zwischen denen streunende Hunde und Hühner herumlaufen, und jetzt anhalten, etwas vorsichtig, bitte, tief durchatmen, die Welle antisemitischer Bombenanschläge in Lateinamerika ist nicht unbemerkt geblieben: mit diesen finsteren jungen Männern am Eingang der Albert-Einstein-Schule ist nicht zu spaßen, da muß man sich vorsehen. Mark springt aus dem Wagen, ausnahmsweise einmal pünktlich, Hannah schreit: »Du hast was vergessen, Blödi!« und wirft ihm seinen Ranzen nach. Mark stelzt los, Bekundungen von Gefühlen sind nicht erlaubt, nicht einmal ein leichtes Winken, denn das könnte ja von seinen Mitschülern als Wehleidigkeit interpretiert werden.
Dann zurück ins Gewühl, das frustrierte Jaulen der Polizeisirenen, das Knurren und Knattern von Bulldozern und Preßlufthämmern, das ewige sinnlose Hupen, Furzen und Fuchteln einer Tropenstadt der Dritten Welt, die es nicht erwarten kann, sich selbst zu ersticken; zurück zu den Bettlern und Krüppeln und den Verkäufern von Handtüchern, Blumen, Trinkbechern und Keksen, die einen an jeder Ampel belagern – Hannah, mach mal dein Fenster auf, und wo ist die Büchse mit den halben Balboas? –, heute ist der beinlose, weißhaarige Senator dran, der in seinem Rollwägelchen durch die Gegend paddelt, und nach ihm die schöne schwarze Mutter mit dem fröhlichen Baby auf der Hüfte, fünfzig Cent für die Mutter, einmal Winken für das Baby, und da kommt auch schon wieder der weinende Junge auf Krücken an, dessen eines Bein wie eine überreife Banane herunterhängt, aber weint er den ganzen Tag oder nur zur Hauptverkehrszeit? Hannah gibt auch ihm einen halben Balboa.
Dann kurzfristig freie Fahrt, als wir mit vollem Tempo den Hügel hoch zur María Immaculada jagen, auf deren Vorhof Nonnen mit staubigen Gesichtern um die gelben Schulbusse wuseln – Señor Pendel , buenas días ! und Buenas días , Schwester Piedad! Und Ihnen auch, Schwester Imelda! –, und hat Hannah an die Kollekte für den Tagesheiligen gedacht, wer auch immer das heute sein mag? Natürlich nicht, sie ist ja auch ein Blödi, also hier hast du fünf Dollar, Kleines, du kommst noch rechtzeitig, und laß dir den Tag nicht verderben. Hannah, ein pummeliges Mädchen, gibt ihrem Vater einen feuchten Kuß und begibt sich auf die Suche nach Sarah, ihrer dieswöchigen Busenfreundin, während ein schmunzelnder, überaus fetter Polizist mit goldener Armbanduhr dreinschaut wie der Weihnachtsmann.
Und kein Mensch findet etwas dabei, denkt Pendel fast schon zufrieden, als er sie in der Menge verschwinden sieht. Weder die Kinder noch sonst jemand. Nicht einmal ich. Ein Judenjunge, nur daß er keiner ist, ein katholisches Mädchen, nur daß sie keins ist, und wir alle finden das normal. Und entschuldige, meine Liebe, daß ich so schlecht von dem unvergleichlichen Ernesto Delgado geredet habe, aber heute ist nicht der Tag, an dem ich brav sein kann.
Worauf Pendel, gutgelaunt und endlich ungestört, auf die Hauptstraße zurückkehrt und seinen Mozart einschaltet. Und sogleich ist er deutlich wacher, wie meistens, wenn er allein ist. Gewohnheitsmäßig sieht er nach, ob die Türen verschlossen sind, und achtet mit einem Auge auf Straßenräuber, Polizisten und andere zwielichtige Gestalten. Aber nervös ist er nicht. Nach der US-Invasion herrschten ein paar Monate die Revolverhelden unbehelligt in Panama. Zöge heute jemand mitten im Verkehrsgewühl eine Waffe, würden sämtliche Fahrer, außer Pendel, aus ihren Autos auf ihn losballern.
Hinter einem der vielen halbfertigen Hochhäuser hervorkommend, springt ihn die grelle Sonne an, die Schatten werden tiefer,
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