Der Schoepfer
zu stehlen und abzuhauen, sondern geschnappt und aus dem Verkehr gezogen zu werden. Dass ihr die Freiheit und Verantwortung von den Schultern genommen würde, damit fähigere und bessere Menschen Ína und Margrét in die Arme schließen und ihnen helfen könnten. Lóa hatte keine Kraft mehr und konnte niemandem helfen, am allerwenigsten sich selbst.
Das Blau des Himmels war so penetrant, dass Lóa es fast schmecken konnte, und sie registrierte die Farben und Formen aller Häuser, an denen sie vorbeifuhr. Der Berg Akrafjall, die Zaunpfähle, die Wiesen, die nach dem Winter gerade wieder begannen, grün zu werden, und als sie dem Jungen am Eingang des Hvalfjörður-Tunnels mit zitternder Hand ihre Kreditkarte hinhielt, musste sie ihm nur in die Augen schauen, um den Klang seiner Erwartungen und Sehnsüchte zu hören.
Obwohl sie ihren Blick nicht von der Straße löste, war es, als würde sie alles von oben sehen. Einen Trawler an der Mündung des Fjords, ruhige, funkelnde Wellen, fleckige Wiesen und schiefe Zäune, einen müden Jungen in einer kleinen Kabine. Sie schaute ins Meer und durch die Felsen unter dem Meer. Und auf den grünen Renault in dem schlecht beleuchteten Tunnel mit ihr selbst am Steuer und einem in Seide gehüllten Verbrechen im Kofferraum. Ihre Wahrnehmung war voller Sonnenschein, von der Wasseroberfläche reflektiert, dennoch wurde sie geblendet, als sie aus dem Tunnel herauskam und der ebenmäßige Himmel die rauen Felsen ablöste. Ab und zu schaute sie in den Rückspiegel, halb damit rechnend, einen roten Dodge durch die Tunnelöffnung rasen oder auf dem Höhenzug auftauchen zu sehen.
Eine Sekunde, nachdem sie den Motor vor ihrem Haus im
Framnesvegur ausgeschaltet hatte, ging die Tür auf, und Ína kam ihr in Unterhose und einem kurzärmeligen T-Shirt mit dem Schriftzug Curious und einem Bild von Britney Spears entgegengelaufen.
Lóa stieg aus dem Wagen, nahm Ína in die Arme und lachte erleichtert, als sie spürte, wie sich vier unversehrte Extremitäten um sie schlangen, und sie den vertrauten Geruch von Erdnussbutter und Marmelade im Atem ihrer Tochter wahrnahm. In Ínas aschblondem Haar glänzte hier und da eine dumpfrote Strähne, denn sie malte sich gerne die Haare an, obwohl Lóa ihr das oft verboten hatte.
»Du siehst ja aus wie ein Tintenfisch«, sagte Lóa und löste Ínas rundlichen Arm und hob sie auf ihre Hüfte. Im Stillen gelobte sie sich, dass so etwas nie wieder vorkommen würde.
Andererseits waren solche Schwüre unnötig, denn es handelte sich nur um einen schrecklichen Unfall oder eine ungewöhnliche Art von Nervenzusammenbruch. Lóa konnte sich nicht erinnern, jemals auf diese Weise nach dem Genuss von Alkohol eingeschlafen zu sein, schon gar nicht in einem fremden Haus.
»Wo warst du?«, heulte Ína. »Ich hatte solche Angst! Warum bist du nicht nach Hause gekommen?«
»Ich bin doch nach Hause gekommen!«, sagte Lóa mit so viel Überzeugung, dass sie es fast selbst glaubte. »Ich bin nach Hause gekommen, als Margrét und du gerade eingeschlafen wart, und dann musste ich ganz früh heute Morgen nochmal weg, um was für Margrét zu kaufen. Warum bist du denn schon so früh auf den Beinen? Du schläfst doch samstags so gerne aus.«
»Ich bin aufgewacht, weil ich gehört hab, dass du nicht zu Hause bist.« Ína machte sich steif, ließ sich von der Hüfte ihrer
Mutter gleiten und verschmierte die Tränen in ihrem ganzen Gesicht. »Was hast du denn für mich gekauft?«
»Ich habe nichts für dich gekauft, aber morgen bekommst du ein Fahrrad als Sommergeschenk«, sagte Lóa. »Und jetzt musst du mir mit Margréts Sommergeschenk helfen. Lauf schnell rein und zieh deine Jacke und deine Schuhe an.«
»Nein, es ist doch Sooommer!«, sagte Ína. »Du hast auch keinen Mantel an.«
»Der Sommer ist noch nicht ganz da«, entgegnete Lóa, strich mit dem Finger über Ínas Arm und verdrängte den Gedanken daran, wo sich ihr Mantel gerade befand. »Du hast ja schon eine Gänsehaut, mein Schatz. Zieh schnell deine Jacke und deine Schuhe an.«
Als Lóa den Kofferraum öffnete, bot sich ihr ein trauriger Anblick – nichts im Vergleich zu der Schönheit, die sie vor einer guten Stunde erblickt hatte, als sie in der Halle des Puppenmachers die Kiste öffnete. Die Puppe lag zusammengekauert da, halb von der schmutzigen Plastikplane verdeckt, das zusammengeknüllte Kleid bis unter die Brüste hochgeschoben. Ihre Haare waren zerzaust und elektrisiert und voller Styroporkügelchen. Ihre
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