Der Schoepfer
leer. Die Decke lag auf dem Boden, und als er sie aufhob, um sie zusammenzulegen, kam der Mantel darunter zum Vorschein, ein weißer Wollmantel mit hellgrünem Futter.
»Hallo!«, rief er und ging mit dem Mantel in die Küche, wo er ihn gedankenlos über einen Stuhl hängte. Er schaute aus dem Fenster und sah, dass ihr Wagen nicht mehr vor dem Haus stand. Sie war weg und hatte ihren Mantel liegen lassen.
Sie würde bestimmt noch mal wiederkommen. Vielleicht konnte er sie zu einem Kaffee einladen, und dieses Mal würde sie womöglich nicht einschlafen. Er hatte das Gefühl, dass sie anständiger war, als der gestrige Abend vermuten ließ. Sie waren beide todmüde gewesen.
Wie lange war es eigentlich her, seit er mit einer Frau geschlafen hatte? Viele Monate. Über ein Jahr. Na ja, wenn sie beide keine Lust hätten, sich körperlich näher zu kommen, konnte man sich vielleicht mit ihr unterhalten. Zu seinen wenigen Freunden hatte er ohnehin keinen Kontakt mehr. Sie war bestimmt nett. Zumindest hatte sie nicht die ganze Zeit gequasselt,
wie Frauen es oft taten, weil sie glaubten, sie würden sich dadurch interessant machen oder die Atmosphäre lockern.
Sveinn setzte Kaffee auf und holte Fladenbrot, Käse und geräuchertes Lammfleisch heraus, schnitt mit einem gezahnten Brotmesser eine dicke Scheibe Käse ab und legte ein paar Scheiben Fleischaufschnitt zwischen zwei Fladenbrothälften.
Nachher musste er einkaufen gehen. An den starrenden Augen der Dorfbewohner vorbei und versuchen, so zu tun, als bemerke er ihr Interesse gar nicht.
Obwohl schon früher über ihn geredet wurde, war durch den Artikel in der Klatschpresse Öl aufs Feuer gegossen worden. In kleinen Gemeinden war den Menschen das Weltgeschehen und der Sinn des Lebens womöglich egal, aber alles, was innerhalb der Ortsgrenzen geschah, beobachteten sie haargenau und bekamen immer mit, wenn eine ihnen bekannte Person in der Zeitung stand.
Sveinn hatte keine Milch mehr und gab stattdessen vier Stück Würfelzucker in den Kaffee. Als er ein paar Mal von dem Fladenbrot abgebissen hatte, fiel sein Blick wieder auf den Mantel, der nachlässig über der Stuhllehne hing, so dass der eine Ärmel den Boden berührte. Als er sich reckte, um ihn hochzuschieben, starrte ihn eine grün gefütterte Innentasche an. Ihm blieb gar keine andere Möglichkeit, als seine Hand hineinzustecken.
Beide Taschen waren leer.
Sveinn ließ den halbgetrunkenen Kaffee stehen und ging mit dem Mantel in den Flur.
Die Haustür stand offen. Er schloss sie und hängte den Mantel auf einen Bügel. Er verströmte einen schwachen Parfümduft, der eher an Weihrauch als an Blumenfelder erinnerte. Sveinn wusste nicht mehr, wann er beschlossen hatte, dass alle Parfümdüfte
penetrant seien, aber dieser war es nicht direkt. Er war exotisch und löste tief in seinem Inneren eine Erregung aus, die ihn glauben ließ, dass Ólöf hübscher war, als er sie in Erinnerung hatte – dass er vielleicht etwas verpasst hatte, das sich direkt vor seiner Nase abgespielt hatte.
Bei Frauen über dreißig konnten Stress und Unzufriedenheit die Gesichtszüge völlig verändern, so dass sie fast nicht mehr wiederzuerkennen waren. Daran hatte er gestern Abend nicht gedacht. Er hatte sich zu sehr nach Gesellschaft gesehnt, um etwas anderes wahrzunehmen als die begrenzte Befriedigung, die ihm, wie er selbst beschlossen hatte, eine fremde Frau in diesem Moment geben konnte. Er hatte damit gerechnet, dass sie ziemlich oberflächlich wäre oder zumindest unsicher genug, um oberflächlich zu wirken – das lief auf dasselbe hinaus –, und als sie seine Erwartungen nicht erfüllte, hatte er vollkommen vergessen, dass sie da war. Zwei Weingläser später hatte er sich gewünscht, sie könnte etwas Unterdrücktes, Vulgäres in ihm befriedigen, indem sie die Kontrolle verlor, aber das hatte sie nur einen kurzen Moment getan, und zwar auf ziemlich gemäßigte Art und Weise – nachdem er sie mit Fragen nach ihren Töchtern in die Enge getrieben hatte. Ein zitterndes Kinn war wohl kaum besonders unbeherrscht oder dramatisch.
Sveinn ließ den Mantel los und roch ihren Duft an seinen Händen, schaute auf sie hinunter, als erwarte er, dass sie plötzlich ihre Form veränderten, und sah dabei aus dem Augenwinkel, dass die Zeitung, die auf dem Boden neben der Haustür lag, zertrampelt war, so als hätte eine ganze Kompanie sich darauf die Stiefel abgetreten. Daneben lag ein Umschlag, sauber und glatt, wie um die zerfetzte
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