Der Schoepfer
Augen, die vorher so warm und lebendig gewirkt hatten, waren jetzt nur noch leicht geöffnet und starr.
Einen Moment bereute Lóa zutiefst, was sie getan hatte, aber nun war es zu spät, um viel Aufhebens darum zu machen. Sie wagte nicht, einem eben aufgewachten Mann in die Augen zu schauen und ihm sein rechtmäßiges Eigentum auszuhändigen, zerfleddert und verdreckt nach einer sinnlosen Reise.
Lóa riss sich zusammen, Ína zuliebe – ihre Tochter wäre entsetzt, wenn sie das Zögern und die Unsicherheit ihrer Mutter bemerken würde –, schob die Plastikplane zur Seite, zupfte das Kleid so gut es ging zurecht und versuchte mit wenig Erfolg,
das Styropor aus dem schwarzen Seidenhaar zu schütteln. Dann hievte sie die Puppe aus dem Kofferraum, legte sie rücklings auf den Asphalt und richtete sie auf, als Ína in schmutzigen Turnschuhen und flatternder rosa Daunenjacke angerannt kam. »Wow!«, rief sie. »Ist das eine Schaufensterpuppe? Warum ist sie so schmutzig?«
»Weil sie eigentlich in eine Kiste gehört, aber für die war nicht genug Platz im Auto, mein Schatz. Pass auf deine Finger auf«, sagte Lóa und ließ den Kofferraum zuknallen. »Wir stellen sie einfach unter die Dusche. Nimm sie an den Beinen, nein, nicht unter den Knien, das ist zu schwer für dich, halt einfach die Fersen hoch, damit sie nicht über den Boden schleift.«
Sie schleppten die Puppe die Stufen hinauf, und zu Lóas großer Erleichterung begegnete ihnen keine Menschenseele.
Drinnen war die Treppe noch wesentlich steiler, und die Puppe rutschte Ína mehrmals aus der Hand. In der Mitte des Treppenhauses ließ sie sich auf den Boden fallen und keuchte übertrieben. »Warte, Mama, das ist so schwer«, stöhnte sie theatralisch.
»Nur noch zehn Stufen«, sagte Lóa. »Lass uns zusammen zählen: Eins … zwei …«
Das Kleid war eine Nummer zu groß und am Rücken nach unten gerutscht, so dass es ein Leichtes war, die Puppe auszuziehen. Lóa klemmte sie aufrecht in die Duschkabine und erlaubte Ína, das Kleid im Waschbecken mit kaltem Wasser auszuspülen. Sie nahm den Duschkopf aus der Halterung und richtete den lauwarmen Strahl auf Haare und Gesicht der Puppe – das Wasser vermischte sich mit dem Staub, der sich von der Plastikplane auf der Puppe verteilt hatte, und strömte in magermilchgrauen Streifen an ihrem Körper hinunter. Der Schmutz löste sich leicht von der Haut, und auch Lóas Gewissen schien dabei
wieder rein zu werden. Die panische Angst, einen so wertvollen Gegenstand gestohlen zu haben, löste sich bald im Wasser und in Ínas Geplapper auf.
»Victoria’s Secret!«, brüllte Ína durch das Rauschen des Wassers. »Das Kleid ist von Victoria’s Secret, Mama, darf ich es haben?«
Lóa wollte sagen, es sei zu groß und die Puppe könne ja nicht nackt bleiben, hielt aber inne, da das Kleid nach dem Waschen ohnehin nicht mehr wie neu sein würde und es daher keinen Sinn hatte, es zusammen mit der Puppe zurückzugeben, wenn es so weit wäre. Und bis dahin war es Unsinn, die Puppe wie ein Flittchen aussehen zu lassen. Sie drehte den Hahn zu, umarmte Ína, die auf einem kleinen rosa Schemel am Waschbecken stand, und küsste sie auf die runde, seidenweiche Wange. »Wenn du versprichst, gleich selbst duschen zu gehen und deine Haare gut auszuspülen, darfst du es haben«, sagte sie. »Und jetzt gib mir mal ein Handtuch und hol meinen karierten Schlafanzug – der ist in meinem Zimmer im Schrank hinter der Tür.«
»Ich finde ihn nicht!«, schrie Ína aus Lóas Schlafzimmer.
»Dann such weiter!«, rief Lóa zurück und trocknete der Puppe vorsichtig die Haare ab. »Und schrei nicht so. Margrét schläft vielleicht noch.«
Kurz darauf lehnte Ína mit dem Schlafanzug im Arm an dem Türrahmen neben der Duschkabine und sagte: »Margrét schläft nicht. Sie ist eigentlich immer wach.«
»Ich weiß, mein Schatz«, sagte Lóa. »Aber manchmal tut sie so, als würde sie schlafen, und du weißt ja, dass sie keinen Lärm vertragen kann. Du musst ihre große Schwester sein, bis es ihr wieder besser geht. Glaubst du, dass du das kannst?«
»Ja«, sagte Ína schmollend, legte den Schlafanzug auf den Waschbeckenrand und begann, die Styroporhagelkörner vom Fußboden aufzuheben.
»Lass die doch einfach liegen«, sagte Lóa. »Ich sauge sie nachher weg.«
»Nein, nicht wegsaugen. Ich sammle sie alle ein. Darf ich die haben? Bitte, Mama, ich bastle eine Weihnachtskarte daraus, oder nein, keine Weihnachtskarte, ein
Weitere Kostenlose Bücher