Der Schrecken verliert sich vor Ort
Bett aus Karotten, Sellerie und Lauch lag ein toter Fasan mit gebrochenen Augen. Die Zehen gespreizt, aus dem offenen Schnabel kroch eine nackte Schnecke. Er verstand die Kinderangst nicht mehr. Das Bild war ein Idyll. Der pure Frieden.
Auf dem Rand der Badewanne stand ein Topf Nivea. Im grünen Keramikbecher steckte die Zahnbürste seiner Mutter und vor dem Spiegel über dem Waschbecken hatte seine Großmutter ihre langen Haare gepflegt. Bei gebeugtem Rumpf hundert Bürstenstriche über den Hinterkopf zur Stirn. Dann warf sie den Kopf zurück und bürstete die Haare aus der Stirn in den Nacken, hundert Strich. Keinen mehr und keinen weniger. Warum machst du das, Oma? Damit sie glänzen und nicht grau werden. Schau, Bub: Kein graues Haar. Darf ich auch mal bürsten, Oma? Sie sagte: Aber Vorsicht Bub, reiß der Oma nicht die Haare vom Kopf, die braucht sie noch. Manchmal durfte er ihr abends die Haare bürsten und so lernte er schon vor der Einschulung bis hundert zählen. Wenn er die Bürste ganz nah an den Borsten packte, glitten ihre Haare durch seine Finger. Das war wie Seide streicheln. Manchmal kamen Funken aus den Haaren, dann, sagte die Großmutter, liegt ein Gewitter in der Luft. Sie war eine alte Frau in schwarzen Röcken, so lang, dass sie am Boden schleiften. Für das Frauenwahlrecht, das am 12. November 1918 beschlossen wurde, war sie auf die Barrikaden gegangen. Heiners Großmutter hatte den 12. November zu ihrem Geburtstag erklärt. In der Familie hieß sie wegen der langen Haare und der Barrikaden ›die wilde Hilde‹.
Er ging ins Wohnzimmer. Auf dem Esstisch lag die weiße Spitzendecke, die zu Familienfeiern aufgedeckt wurde. Darauf stand das silberne Salzfass, das nie abgeräumt wurde. Salz auf dem Tisch bringt Glück. Am Kopfende saß der Vater, ihm gegenüber die Großmutter, rechts die Mutter, daneben Greta, der man beim Essen noch helfen musste und links vom Vater saß Heiner neben seiner Schwester Alma. Einen Augenblick lang sah er sie, die ganze Familie. Sie beteten nicht. Sie fassten sich an den Händen und die Großmutter sagte: Auch in größter Not wünschen wir uns Salz und Brot.
Vorsichtig, als wäre es eine Reliquie, nahm er das silberne Salzfass in die Hand. Es war stumpf geworden, er rieb es an der Jacke blank. Neun kleine, verklebte Löcher. Eine Stille ging von dem Silberfässchen aus, als hielte es seit Jahren den Atem an. Er leckte über den Deckel – auch in größter Not wünschen wir uns Salz und Brot. Erst wenn der Vater ›guten Appetit‹ gesagt hatte, durften die Bestecke aufgenommen werden. Für Heiner war sein Vater ein Mann, den er nur im Anzug kannte. Ein Staatsbeamter im ›Roten Wien‹, aus dem Krieg zurückgekommen als radikaler Sozialdemokrat. Nicht immer gab es Pudding oder Kuchen zum Nachtisch aber immer eine kleine Vaterlektion Politik, zu der die Großmutter nickte, die die Mutter über sich ergehen ließ, die Mädchen langweilte und Heiner elektrisierte. Sein Kinder-Wien war nur vor der Haustür leise. Heiner wusste mit fünf, dass es einen großen Krieg gegeben hatte und Österreich danach ohne Kaiser war. Er war sechs, als ihn der Vater zu den sozialdemokratischen Kinderfreunden brachte. Da wusste er bereits, dass nur Wien den ›Roten‹ gehörte, der ganze österreichische Rest den ›Schwarzen‹. Er hörte die Hufe der Pferde, das Rumpeln der Karren, das Kreischen der Kinder, er hörte sein gemütliches Wien vor der Haustür, als der Vater nicht, wie sonst, das Besteck aufnahm und guten Appetit wünschte, sondern auf den blanken Teller starrte und in die Stille hinein sagte: Der Justizpalast brennt. Heiner war sieben und hätte jede Suppe stehen lassen, wenn nur der Vater endlich erklären würde, warum der Justizpalast brannte, wer ihn angezündet hatte und ob es gut war, dass er brannte. Und für wen das gut war, für die Roten oder für die Schwarzen.
Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem er als Kind gesessen hatte. Er hörte die Stimme des Vaters. Knapp, dozierend wie der Lehrer in der Schule. In Schattendorf, einem Ort im Burgenland, waren beim Zusammenstoß zwischen rechten, kaisertreuen ›Frontkämpfern‹ und linken Sozialdemokraten zwei Menschen erschossen worden. Ein Mann und ein Kind. Gestern, am 14. Juli 1927, merk dir das Datum, Bub, sind die Täter vom Geschworenengericht freigesprochen worden. Die Empörung über das ›Schattendorfer Urteil‹ trieb die Menschen auf die Straße, die Massen zogen zum Justizpalast, sie durchbrachen
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