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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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vertrage ich nicht. Ich starre sie an bis sie stehen bleiben und fragen, ob wir uns kennen. Dann sage ich: Um Himmels Willen, nein, das wäre ja furchtbar und kehre um. Lena sagte: So, So. Das konnte heißen. Ich verstehe, oder: Der Mann ist ein Spinner.
    Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und dachte nach. Schwimmen. Kino. Tom. Wein trinken in der warmen Nacht. Das war ein schönes Programm – aber kann sie diesen Mann ganz alleine üben lassen, in Deutschland ein paar Schritte zu tun? Wieso ließ er sich nicht betreuen? Alle Zeugen wurden betreut. Sollte sie ihn mitnehmen, einbinden in ihr Programm? Keine gute Idee. Der Mann hatte vor zehn Minuten noch Tränen in den Augen. Sie sah ihn an. Gut sah er aus, er lächelte, ließ sich helfen, ohne sich für seine Schwäche zu schämen. Je länger ihre Hand auf der Schulter dieses Mannes lag, desto neugieriger wurde sie. Sie kannte keinen wie ihn. Wenn er nach Wien zurückfuhr, hatte sie die Chance verpasst, ihn kennen zu lernen. Darf ich Sie … sagte Lena und Heiner sagte zur gleichen Zeit: Wollen wir … und dann lagen die Sätze ›heute Abend zum Bier einladen‹ und ›Sahnetorte essen‹ übereinander.
    Seine erste Reise nach Frankfurt lag ein Jahr zurück. Damals waren seine Füße aus Blei und der Weg zum Untersuchungsgefängnis wie eine zweite Deportation. Ein liebenswerter Richter begleitete ihn und wie immer man das, was ihm bevorstand, nannte – Gegenüberstellung, Begegnung – die freundlichen Begriffe machten den Gang nicht leichter. Zwei Männer sollte er identifizieren, die ihn damals täglich hätten töten können: Josef Klehr und Oswald Kaduk. Ins Gesicht sollte er ihnen sagen, was er gesehen hatte. Kaduk saß seit fünf Jahren in Untersuchungshaft, er war von einem ehemaligen Häftling in Berlin erkannt und angezeigt worden. Als wäre nichts geschehen, hatte er, wie auch schon vor dem Krieg, als Pfleger gearbeitet. Die Patienten nannten ihn ›Papa Kaduk‹, weil er so gemütlich war. Kaduk war ein kräftiger Kerl, der Heiner noch immer Angst einflößte. Wenn er plötzlich zuschlug – ob der Richter ihn dann schützen konnte? Die Angst vor Klehr war diffuser. Der Mann hatte keine Spritze mehr in der Hand, mit der er töten konnte, aber diese eine Sekunde, in der ihn der Oberscharführer damals musterte, dieser kalte Schrecken saß ihm in den Knochen.
    Der Richter machte ihm Mut: Wird schon, Herr Rosseck, keine Angst. Als sie das kleine Besucherzimmer betraten, waren beide Männer schon da und er sah sie zum ersten Mal ohne Uniform, ohne Waffen, ohne die Umgebung, in der sie die Herren waren. Er tauschte einen kurzen Blick mit Klehr, dem er im Lager täglich begegnet war. Der sagte kühl: Was soll der Zirkus. Den Mann habe ich nie gesehen. Heiner glaubte ihm, wie sollte er ihn auch erkennen. Er war ja kein gestreiftes Gerippe mehr, er hatte Haare und er hatte sie wachsen lassen, weil er dort keine Haare haben durfte. Er trug einen Anzug, ein weißes Hemd und einen Schlips, er war ein Mensch. Natürlich wusste Klehr nicht, wer er war. Klehr streckte ihm die Hand entgegen und Heiner nahm sie, obwohl er sich vorgenommen hatte, keinem der Männer die Hand zu geben, es war ein Reflex. Man nimmt die Hand, die einem entgegenkommt. Klehr war nicht wütend, eher entnervt von dem, was man ihm vorwarf: Ja, ja, ich habe gespritzt, sagte er, wie oft wollt ihr das noch hören … ich habe Tagebuch geführt … da steht doch alles drin … ja, es waren 12400 … das war eine Erlösung für diese Menschen, warum glaubt mir das keiner … in der Gaskammer haben sie mehr als acht Minuten leiden müssen … und bei mir: Spritze rein ins Herz, umgefallen, tot … und diesen Mann da, er sah Heiner noch einmal an, den habe ich noch nie gesehen. Auch Heiner erkannte Klehr kaum wieder. Er sah wie jedermann aus, aber damals hätte er ihn unter Hunderten und aus jeder Entfernung erkannt.
    Kaduk stand nicht auf. Er warf den Kopf in den Nacken und sah Heiner an, als wolle er sagen: Was willst du hier, du Würstchen. Bitte, Herr Rosseck, sagte der Richter, erzählen Sie Ihre erste Begegnung mit Kaduk.
    Jetzt durfte er reden und er sagte, was er sich vorgenommen hatte. Jeder hatte dort seine Spezialität, Herr Richter, aber das weiß man erst, wenn man es gesehen hat, und ich erinnere mich deshalb so genau, weil es mein erster Arbeitstag war und der Tag davor der Tag meiner Ankunft. Kaduk mordete mit dem Knüppel.
    Der Untersuchungsgefangene sprang auf, er ballte die

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