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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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sich nicht ihre Augen vorstellen, ihre lächelnden Münder. Die Anstrengung war unmenschlich. Kaduk machte Kabarett. Beim Einzug in den Gerichtssaal knallte er die Hände an die Hosennaht und warf den Kopf in den Nacken. Er verhöhnte das Gericht, die Zeugen und auch die Männer neben ihm auf der Anklagebank, die sich an nichts erinnern konnten. Klehr lachte, seine Sprache war die gleiche wie damals. Die Selektion hieß ›Visite machen‹ und das Töten mit dem Desinfektionsmittel Phenol ›abimpfen‹. Er sagte, was er dachte: Die Methode war preisgünstig, geruchlos, einfach anzuwenden und absolut zuverlässig. Für Klehr waren die Richter begriffsstutzig. Wozu aufregen? Ein schneller Tod ist doch human! Die Spritze war noch nicht ganz ausgespritzt, erklärte er, da war der Mensch schon tot. Mord? Herr Richter, was waren denn das für Kranke, die wo abgespritzt wurden!? Auf Deutsch gesagt: Das waren keine Kranken mehr, das waren halbe Tote.
    Heiner hatte die zweite Aussage durchgehalten, wenig gestammelt, sich nicht aus der Fassung bringen lassen, er war nicht zusammengebrochen. Er war stolz auf sich, aber Frieden mit seinem Auftritt schloss er erst, als er aufgeschrieben hatte, was er wirklich hätte sagen wollen. Den Text konnte er, wann immer gefragt wurde – auch noch viele Jahre später – wie eine Ballade vortragen.
    Hohes Gericht!
    Block 21 war der Häftlingskrankenbau, in dem ich als Maschinenschreiber gearbeitet habe, mein Block. Dort lernte ich, beinahe über Nacht, sonst stünde ich heute nicht hier, den Umgang mit der Schreibmaschine.
    Die Schreibstube liegt im Erdgeschoss von Block 21, wenn Sie reinkommen gleich links. Sechzehn Männer tippen ohne Pause, Tag und Nacht. Es ist Akkordarbeit. Wir schreiben Todesmeldungen. Die erste Schicht dauert von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends, die zweite beginnt um sechs Uhr abends und endet um sechs Uhr morgens. Todesmeldungen, müssen Sie wissen, werden nur für Menschen geschrieben, die eine Nummer bekommen haben, das sind Menschen, die im Lager aufgenommen worden waren. Es sind die wenigsten eines jeden Transports. Für die, die sofort umgebracht werden, müssen keine Meldungen geschrieben werden. Die Liste mit den Namen und Nummern der Toten bringt uns mehrmals am Tag ein SS-Mann vorbei. Wir wissen nicht, woran diese Menschen gestorben sind. Wir haben dreißig Krankheiten zur Auswahl, die variieren wir. In meiner Schreibmaschine sterben die Menschen an Herzschlag, Phlegmonen und Lungenentzündung, Fleckfieber und Typhus, Embolie, Influenza, Kreislaufkollaps, Hirnschlag, Leberzirrhose, Scharlach, Diphterie, Keuchhusten, Nierenversagen. In keinem Fall wird in Auschwitz jemand erschlagen, zu Tode geprügelt oder erschossen. Niemand verhungert, verdurstet, niemand wird erhängt, niemand vergast. Wir schreiben vierundzwanzig Stunden Todesmeldungen, achthundert bis tausend in einer Schicht, dazu schreiben wir Arztberichte für die Angehörigen – das ist ein wüstes Tastengeratter.
    An dieser Stelle gab Heiner seiner Rede ein Tempo, als leiere er ein hastiges Vaterunser herunter. Man sah ihn tippen: Häftling 128.439, Otto Schnur, geboren am 24. 9. 1905, letzter Wohnort Hannover, wurde am 19. 10. 1942 in das KL Auschwitz eingeliefert. Punkt. Am 28. 11. 1942 wurde der Häftling 128.439, Otto Schnur, in den Häftlingskrankenbau eingeliefert. Punkt. Die klinische und röntgenologische Untersuchung ergab Fleckfieber, Herzschwäche trat hinzu, er kollabierte und verstarb am 2. 12. 1942 um 19.35 Uhr. Punkt. War der Verstorbene Reichsdeutscher, ging der Durchschlag an die Angehörigen. Woran der Häftling Otto Schnur wirklich gestorben ist, weiß ich nicht.
    Hohes Gericht!
    Wissen Sie, was Phlegmonen sind? Phlegmone sind Zellgewebsentzündungen, die vor allem die Beine befallen, das kommt durch Hunger und Dreck. Die Beine schwellen an, sie werden dick wie dorische Säulen und die Füße rund wie Kanonenkugeln. Die Haut platzt und es entstehen Löcher, aus denen ein eitriges Sekret fließt. Und – an dieser Stelle hielt er sich die Nase zu – das stinkt faul und süß … Sie glauben nicht, wie das stinkt! Manchmal riech’ ich es im Traum, dann wird mir schlecht, ich wache auf und muss mich übergeben. Ansonsten, muss ich sagen, war die Arbeit recht angenehm. Nur manchmal brach sie einem das Herz. Sie entdecken die Nummer von einem, den Sie am Vormittag noch gesehen haben und dann ist Nachmittag und er ist tot. Was ist ihm geschehen? Hat man ihn erschossen? Ist

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