Der Schuss nebenan Kommissar Morry
Magnet. Kein Wunder, das Dämonische hat Frauen schon immer gereizt. Bei Lord Bramsey kamen noch die Pluspunkte einer hochadeligen Abstammung und männlich-energische Gesichtszüge hinzu. Außerdem hatte er ein abgeschlossenes Jurastudium sowie eine beachtliche Reihe sportlicher Erfolge aufzuweisen. Wie dem auch sei: sein lockerer Lebenswandel und die Anschuldigungen seiner Feinde hatten die Polizei gezwungen, den erhobenen Vorwürfen nachzugehen. Scotland Yard schaltete die Interpol ein, und so kam es, daß das FBI in New York den Auftrag erhielt, Lord Bramsey zu verhören.
Detektivleutnant Random war der Mann, der den Lord an einem Dienstagnachmittag in seiner Hotelsuite im Waldorf-Astoria aufsuchte. Random war ein tüchtiger, zäher Bursche; er befand sich schon seit zwölf Jahren im Dienst und glaubte fest an die unverrückbaren Prinzipien der Demokratie. Gleichzeitig nährte er ein gewisses Mißtrauen gegen Leute, die seines Wissens dem demokratischen Ideal im Wege standen. Dazu gehörten, wie Random meinte, die Aristokraten alter Prägung, die Vertreter der feudalistischen Epoche. Mit anderen Worten: Random empfand dem Lord gegenüber einige Vorurteile. Bramsey, der von Randoms Kommen telefonisch unterrichtet worden war, empfing den Detektivleutnant in bester Laune — ein Umstand, der Randoms Antipathie gegen den Lord noch weiter vertiefte. Wie konnte ein Mann, der erst vor wenigen Tagen die Eltern und die Braut verloren hatte, so guter Dinge sein? Das war einfach ungehörig!
„Nehmen Sie Platz, mein Freund", sagte Bramsey. „Wie ich höre, sind Sie ein Mitglied des FBI?"
Random blieb hölzern stehen. Sein Pokergesicht verriet keinerlei Gefühl. Er fand, daß Bramsey viel zu gut aussah. Gegen gut aussehende Leute hatte Random ebenfalls eine tiefe Abneigung. Im übrigen störte ihn der leicht gönnerhafte Unterton, den er in der Stimme des Lords zu entdecken glaubte. Bramsey war noch nicht fertig angezogen. Er stand vor einem Spiegel und war gerade dabei, sich den Schlips zu binden. Er tat das leise pfeifend und mit selbstvergessener Hingabe. Für einige Sekunden schien er seinen Besucher völlig vergessen zu haben. Random räusperte sich.
Bramsey blickte über die Schulter. „Na, alter Junge, haben Sie Angst, daß einer der Sessel unter Ihrer Last zusammenbrechen könnte? Ich will nicht hoffen, daß sich so etwas ereignet. Die Hotelleitung nimmt mir immerhin pro Tag und Zimmer runde hundert Dollar ab. Dafür sollte man, meine ich, Anspruch auf zuverlässigen Sitzkomfort erheben können."
Random setzte sich gleichsam unter Protest. Er blieb auf der äußersten Sesselkante sitzen und sah zu, wie Lord Bramsey in sein Jackett schlüpfte. Random war als Kriminalist gewohnt, sich jede Kleinigkeit einzuprägen. Ihm entging daher nicht die erstaunliche Tatsache, daß der Engländer zwar pro Tag und Zimmer einhundert Dollar Hotelkosten zahlte, daß er aber andererseits einen Flanellanzug trug, der seine besten Tage längst hinter sich hatte. Der Krawattenknoten war ziemlich klobig ausgefallen; die darauf verschwendete Mühe entsprach nach Randoms Ansicht nicht im mindesten dem Ergebnis. Alle Engländer haben einen Spleen, schoß es dem Detektivleutnant durch den Kopf. Für Aristokraten schien das im besonderen Maße zu gelten!
„So... da wären wir", sagte Lord Bramsey, der das Jackett straff zog und Random verbindlich in die Augen lächelte. „Würden Sie es mit Ihren strengen Dienstvorschriften für vereinbar halten, mit mir einen guten, alten Scotch zu trinken? Oder sollten Sie zu den Amerikanern gehören, die aus Patriotismus Bourbon vorziehen?"
„Ich trinke Bier", meinte Random, den es danach drängte, seine demokratische Hemdsärmligkeit gegen Lord Bramseys wohlgesetzte Worte zu stellen. „Auf Whisky pfeife ich."
„Bier? Hmm, köstlich und erfrischend, obwohl ich zugebe, daß unser englisches Ale kaum zu genießen ist. Soll ich Ihnen eine Flasche des Hopfenproduktes herauf kommen lassen?"
„Vielen Dank, ich bin in offizieller Mission hier", sagte Random abwesend.
Bramsey nahm dem Leutnant gegenüber Platz. Random entdeckte, daß der Lord sehr abgetragene Schuhe und recht unmodische Socken trug. Und so etwas nannte sich Multimillionär! Allerdings: wie ein Mörder sah er nicht aus. Wenn er beim Lächeln seine weißen, kräftigen Zähne zeigte, hatte er nichts Düsteres an sich. Da wirkte er einfach wie ein hübscher Junge aus gutem Hause. Random war allerdings fest entschlossen, sich von keinem
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