Der Schutzengel
zwei ihr gehörten. Außerdem gab es zwei Einbaukleiderschränke, und sie hatte einen halben zugewiesen bekommen. Die uralten Vorhänge hingen labberig und fettig an vom Rost befallenen Vorhangstangen. Das ganze Haus war moderig und gespenstisch, es roch irgendwie unangenehm, und Willy Sheener streifte durch Zimmer und Korridore, als wäre er ein böser Geist und warte auf den Vollmond mit seinen blutigen Spielen.
An diesem Abend nach dem Essen schlossen die Ackerson-Zwillinge die Zimmertür und forderten Laura auf, sich zu ihnen auf den abgetretenen braunen Teppich zu setzen und mit ihnen Geheimnisse auszutauschen.
Die andere Mitbewohnerin, eine seltsam stille, schmächtige Blondine namens Tally, hatte kein Interesse, sich daran zu beteiligen. Sie saß mit zwei Kissen im Rücken in ihrem Bett, las ein Buch und kaute dabei unaufhörlich mauseartig an ihren Fingernägeln.
Laura hatte Thelma und Ruth Ackerson sofort gern. Die beiden waren eben zwölf geworden, also nur wenige Monate jünger als Laura, und für ihr Alter schon sehr erfahren. Sie waren mit neun Jahren Waisen geworden und lebten seit fast drei Jahren im McIllroy Home. Es war schwierig, für Kinder in ihrem Alter Adoptiveltern zu finden – vor allem für Zwillingsschwestern, die unbedingt zusammenbleiben wollten.
Beide waren nicht hübsch und in ihrer Unscheinbarkeit erstaunlich identisch: glanzloses braunes Haar, kurzsichtige braune Augen, breites Gesicht, breiter Mund, starkes Kinn. Aber was ihnen an gutem Aussehen fehlte, machten sie durch Intelligenz, Lebhaftigkeit und Freundlichkeit mehr als wett.
Ruth trug blaue Pantoffeln und einen blauen Schlafanzug mit dunkelgrünen Biesen an Kragen und Manschetten und hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Thelma trug flauschige gelbe Pantoffeln mit je zwei aufgenähten Knöpfen, die Augen darstellen sollten, und einen himbeerroten Schlafanzug; ihr Haar hing lose herab.
Bei Einbruch der Dunkelheit war die unerträgliche Hitze abgeflaut. Sie waren keine 15 Kilometer vom Pazifik entfernt, so daß die Nachtbrise behaglichen Schlaf ermöglichte. Da die Fenster offenstanden, strömte milde Luft herein, brachte die schmuddeligen alten Vorhänge in leichte Bewegung und verteilte sich im ganzen Zimmer.
»Der Sommer ist hier langweilig«, erklärte Ruth der zwischen ihnen auf dem Boden sitzenden Laura. »Wir dürfen das Grundstück nicht verlassen, und es ist einfach nicht groß genug. Außerdem sind im Sommer alle kinderfreundlichen Leute so mit ihren Badeausflügen und ihren Urlaubsreisen beschäftigt, daß sie uns vergessen.«
»Aber Weihnachten ist großartig,« sagte Thelma.
»Der ganze November und Dezember sind großartig«, stellte Ruth fest.
»Richtig«, bestätigte Thelma. »Feiertage sind großartig, weil dann die Leute ein schlechtes Gewissen kriegen, wo sie doch alles haben, während wir armen, verlassenen, heimatlosen Waisenkinder Papierkleider und Schuhe aus Pappe tragen und die Grütze vom vorigen Jahr essen müssen. Deshalb schicken sie uns Freßkörbe, gehen groß mit uns einkaufen und laden uns ins Kino ein – allerdings nie in gute Filme.«
»Oh, mir gefallen manche ganz gut«, sagte Ruth.
»Lauter Filme, in denen nie, nie jemand in die Luft gesprengt wird. Und nie welche mit Sauereien. Wir kriegen nie einen Film zu sehen, in dem ein Kerl einem Mädchen an die Titten greift. Ja, Familienstorys. Öde, nichts als öde.«
»Du mußt meiner Schwester verzeihen«, sagte Ruth zu Laura. »Sie bildet sich ein, schon in der Pubertät zu sein, und …«
»Ich stehe am Rand der Pubertät! Ich spüre, wie meine Säfte steigen!« rief Thelma aus und reckte einen ihrer dünnen Arme hoch in die Luft.
»Der Mangel an elterlicher Führung hat ihr doch geschadet, fürchte ich«, behauptete Ruth. »Sie hat sich dem Waisendasein nicht gut angepaßt.«
»Du mußt meine Schwester entschuldigen«, warf Thelma ein. »Sie hat beschlossen, die Pubertät zu überspringen und von der Kindheit direkt zur Senilität überzugehen.«
»Was ist mit Willy Sheener?« fragte Laura.
Die Ackerson-Zwillinge tauschten einen wissenden Blick und redeten dann abwechselnd so rasch, daß keine Sekunde zwischen ihren Aussagen ungenutzt blieb. »Ach, ein Gestörter«, sagte Ruth, und Thelma sagte: »Ein Dreckskerl«, und Ruth sagte: »Er braucht eine Therapie«, und Thelma sagte: »Nein, dem müßte man einen Baseballschläger ein, vielleicht zwei dutzendmal über den Kopf schlagen und ihn dann für den Rest
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