Der Schutzengel
ergehen lassen. Etta Bowmaine war korpulent und trug unvorteilhafte Kleider mit Blütendessins. Mit der schwatzhaften Unaufrichtigkeit, die Thelma so perfekt imitiert hatte, schwelgte sie in Gemeinplätzen und Platitüden und stellte eine Menge Fragen, die sie in Wirklichkeit gar nicht ehrlich beantwortet haben wollte. Laura schwindelte ihr vor, wie glücklich sie im McIllroy sei, und Mrs. Bowmaine freute sich sehr über ihre Lügen.
Auf dem Rückweg in ihr Zimmer im zweiten Stock begegnete Laura auf der Nordtreppe dem Aal. Als sie um den zweiten Treppenabsatz bog, stand er auf den Stufen über ihr und polierte den Eichenholzhandlauf mit einem Lappen. Neben sich hatte er eine ungeöffnete Flasche Möbelpolitur stehen.
Laura erstarrte, ihr Herz begann zu jagen, weil sie wußte, daß er ihr hier aufgelauert hatte. Er mußte gewußt haben, daß Mrs. Bowmaine sie in ihr Büro bestellt hatte, und damit gerechnet haben, daß sie die nächste Treppe benützen würde, um in ihr Zimmer zurückzugehen.
Sie waren allein. Andere Kinder oder im Haus Beschäftigte konnten jederzeit vorbeikommen, aber im Augenblick waren sie allein.
Lauras erster Gedanke war, den Rückzug anzutreten und die Südtreppe zu benützen, aber sie erinnerte sich daran, daß Thelma ihr geraten hatte, sich von dem Aal nicht einschüchtern zu lassen, weil Kerle dieses Typs es nur auf Schwächere abgesehen hätten. Sie sagte sich, es sei bestimmt am besten, wortlos an ihm vorbeizugehen, aber ihre Füße waren wie festgenagelt; sie konnte sich nicht bewegen.
Der Aal, der eine halbe Treppe über ihr stand, lächelte jetzt. Es war ein gräßliches Lächeln. Seine Haut war weiß, seine Lippen waren farblos, aber seine schiefen Zähne waren gelb und hatten braune Flecken wie die Schale einer überreifen Banane. Das Gesicht unter dem kupferroten Haarschopf erinnerte an einen Clown – nicht an einen Zirkusclown, sondern an einen Maskierten, der zu Halloween mit einer Kettensäge statt mit einer Spritzwasserflasche herumlief.
»Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Laura.«
Sie wollte ihn auffordern, sich zum Teufel zu scheren. Sie brachte kein Wort heraus.
»Ich wäre gern dein Freund«, sagte er.
Irgendwie brachte sie die Kraft auf, weiter die Treppe hinaufzusteigen.
Er grinste noch breiter, weil er vielleicht glaubte, sie reagiere auf sein Freundschaftsangebot. Er griff in eine Tasche seiner Khakihose und zog ein paar Tootsie Rolls heraus.
Als Laura sich an Thelmas komische Kommentare zu den dümmlichen Annäherungsversuchen des Aals erinnerte, wirkte er plötzlich nicht mehr so angsteinflößend. Lüstern grinsend und mit Tootsie Rolls in der ausgestreckten Hand war Sheener eine lächerliche Figur, eine Karikatur des Bösen, und sie hätte ihn ausgelacht, wenn sie nicht gewußt hätte, was er Tammy und anderen Mädchen angetan hatte. Obwohl sie nicht lachen konnte, gaben die lachhafte Erscheinung des Aals und sein Verhalten ihr den Mut, an ihm vorbeizuschlüpfen.
Als er merkte, daß Laura weder die Süßigkeiten noch sein Freundschaftsangebot annehmen wollte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter, um sie festzuhalten.
Sie griff aufgebracht danach und stieß die Hand weg. »Rühren Sie mich ja nicht an, Sie Widerling!«
Sie stieg die Treppe schneller hinauf und kämpfte gegen den Drang an zu rennen. Wenn sie rannte, würde er wissen, daß ihre Angst vor ihm nicht völlig gebannt war. Er durfte sie bei keiner Schwäche ertappen, Schwäche würde ihn ermutigen, sie weiter zu belästigen.
Als sie nur mehr zwei Schritte bis zum nächsten Treppenabsatz hatte, wagte sie zu hoffen, sie habe gesiegt und ihre Kompromißlosigkeit habe ihn beeindruckt. Dann hörte sie das unverkennbare Geräusch eines Reißverschlusses. »He, Laura, sieh dir das an!« flüsterte er laut hinter ihr. »Sieh dir an, was ich für dich hab’.« Seine Stimme klang irr, haßerfüllt. »Sieh nur, sieh nur, was ich jetzt in der Hand hab’, Laura.«
Sie sah sich nicht um.
Sie erreichte den Absatz, nahm die nächste Treppe in Angriff und dachte dabei: Du brauchst nicht zu rennen; wage ja nicht zu rennen; nicht rennen, nur nicht rennen.
»Sieh dir die große Tootsie Roll an, die ich jetzt in der Hand hab’, Laura«, sagte der Aal auf der Treppe unter ihr. »Sie ist viel größer als die anderen.«
Im zweiten Stock lief Laura sofort ins Bad, wo sie sich gründlich die Hände schrubbte. Sie kam sich beschmutzt vor, weil sie Sheeners Hand angefaßt hatte, um sie von ihrer Schulter
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