Der Schutzengel
des Wetters. Er ist betrunken. Ganz recht. Er wäre eine Gefahr für die Patientin. Nein … er ist so betrunken, daß es zwecklos wäre, ihn an den Apparat zu holen. Tut mir leid. Er hat in letzter Zeit ziemlich viel getrunken und es zu vertuschen versucht, aber heute abend geht’s ihm schlechter als sonst. Hmmm? Ich bin ein Nachbar. Okay. Besten Dank, Oberschwester. Gute Nacht.«
Markwell war wütend, aber seltsamerweise auch erleichtert darüber, daß sein Geheimnis preisgegeben worden war. »Sie haben mich ruiniert, Sie Schweinehund!«
»Nein, Doktor, Sie haben sich selbst ruiniert. Selbsthaß zerstört Ihre Karriere. Und er hat Ihre Frau dazu gebracht, Sie zu verlassen. Natürlich hatte es in Ihrer Ehe schon zuvor gekriselt, aber sie hätte sich vielleicht retten lassen, wenn Lenny überlebt hätte. Vielleicht sogar auch noch nach seinem Tod, wenn Sie sich nicht völlig in sich selbst zurückgezogen hätten.«
Markwell starrte ihn verblüfft an. »Verdammt noch mal, woher wissen Sie, wie’s mit Anna und mir gewesen ist? Und woher wissen Sie über Lenny Bescheid? Ich sehe Sie heute zum ersten Mal. Wie können Sie irgend etwas über mich wissen?«
Der Unbekannte ignorierte alle Fragen, stellte zwei Kissen ans gepolsterte Kopfende des Betts, legte seine nassen, schmutzigen Stiefel auf die Tagesdecke und streckte sich behaglich aus. »Auch wenn Sie sich wegen Lennys Tod Vorwürfe machen, sind Sie nicht daran schuld. Sie sind bloß Arzt – kein Wunderheiler. Aber daß Sie Anna verloren haben, ist Ihre Schuld. Und was Sie seither geworden sind – eine akute Gefahr für Ihre Patienten –, ist ebenfalls Ihre Schuld.«
Markwell schien widersprechen zu wollen; dann seufzte er jedoch und ließ den Kopf nach vorn sinken, bis sein Kinn die Brust berührte.
»Wissen Sie, wo’s bei Ihnen fehlt, Doktor?«
»Das erzählen Sie mir bestimmt gleich.«
»Ihr Manko ist, daß Sie niemals um etwas haben kämpfen, sich niemals haben durchbeißen müssen. Sie haben einen wohlhabenden Vater gehabt und deshalb alles bekommen, was Sie wollten: Privatschule, erstklassige Universität, einen guten Beruf. Und obwohl Sie beruflich erfolgreich waren, brauchten Sie das verdiente Geld nie – Sie hatten schließlich Ihre Erbschaft. Als Lenny dann an Kinderlähmung erkrankte, konnten Sie diesen Schicksalsschlag nicht verwinden, weil Sie keineÜbung darin hatten. Ihnen hat die Schutzimpfung gefehlt; Sie hatten keine Widerstandskraft und sind deshalb einem akuten Anfall von Verzweiflung erlegen.«
Markwell hob den Kopf und blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte. »Das verstehe ich nicht«, sagte er.
»Durch Ihr Leiden haben Sie etwas dazugelernt, Markwell, und wenn Sie lange genug nüchtern bleiben, um darüber nachzudenken, kommen Sie vielleicht wieder ins Gleis. Sie haben noch immer eine minimale Chance, Ihrem Leben eine Wende zu geben.«
»Vielleicht will ich ihm keine Wende geben.«
»Das könnte stimmen, fürchte ich. Ich glaube, daß Sie Angst vor dem Sterben haben, aber ich weiß nicht, ob Sie den Mut zum Weiterleben haben.«
Der Arzt merkte, daß sein Atem nach Pfefferminz und abgestandenem Whisky roch. Seine Kehle war wie ausgedörrt, seine Zunge schien geschwollen zu sein. Er sehnte sich nach einem Drink.
Markwell ruckte halbherzig an den Stricken, die seine Hände an den Stuhl fesselten. Er ärgerte sich darüber, wie jämmerlich winselnd seine Stimme klang, war jedoch außerstande, seine Würde zurückzugewinnen, als er jetzt fragte: »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Ich will verhindern, daß Sie heute nacht ins Krankenhaus fahren. Ich will dafür sorgen, daß nicht Sie Janet Shane von ihrem Baby entbinden. Sie sind zu einem Pfuscher, einem potentiellen Killer geworden, dem diesmal das Handwerk gelegt werden muß.«
Markwell fuhr sich mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen. »Ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind.«
»Und Sie werden’s auch nie erfahren, Doktor!«
Bob Shane hatte noch nie solche Angst gehabt. Aber er hielt seine Tränen aus dem abergläubischen Gefühl zurück, dieses offenkundige Eingeständnis seiner Angst könnte das Schicksal herausfordern und Janet und dem Baby den sicheren Tod bringen.
Er beugte sich auf dem Wartezimmerstuhl vor, senkte den Kopf und betete stumm: »Lieber Gott Janet hätte einen Besseren als mich verdient. Sie ist so hübsch, und ich bin ganz und gar durchschnittlich. Ich bin nur ein kleiner Geschäftsmann, und mein Lebensmittelladen an der Ecke
Weitere Kostenlose Bücher