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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Kleinlastern und Privatfahrzeugen. Nirgendwo in Frankreich gelangte man früher an die Köstlichkeiten als hier.
    Qualität war allerdings ein endlicher Faktor. Hummer kamen selbstverständlich aus der Bretagne, aber auch darunter gab es wiederum attraktive und wenig verlockende Exemplare. Kurz, es hatte einiges zugeschehen und zu stimmen, um beispielsweise Jean Jérôme in Roanne zufrieden zu stellen.
    Er nahm die Hummer der Reihe nach auf und drehte sie, um sie von allen Seiten zu betrachten. Je sechs Tiere teilten sich eine große Styroporkiste, ausgekleidet mit einer Art Farn. Sie regten sich kaum, aber natürlich lebten sie, wie es sich gehörte. Ihre Scheren waren zusammengebunden.
    »Gut«, sagte Jérôme.
    Es war das höchste Lob, das er zu vergeben hatte. Tatsächlich gefielen ihm die Hummer sogar ausnehmend gut. Sie waren eher klein, aber schwer für ihre Größe, mit glänzend dunkelblauem Panzer.
    Bis auf die letzten beiden.
    »Zu leicht«, sagte er.
    Der Fischhändler runzelte die Stirn, nahm einen der Hummer, die Jérômes Beifall gefunden hatten, und einen der Beanstandeten und wog sie in beiden Händen gegeneinander ab.
    »Sie haben Recht, Monsieur«, sagte er bestürzt. »Ich muss mich entschuldigen.« Er stand da wie eine Justitia des Fischmarkts, die Unterarme abgewinkelt, die Hände ausgestreckt. »Aber viel ist es nicht. Eine Kleinigkeit, nicht wahr?«
    »Nein, viel ist es nicht«, sagte Jérôme. »Für eine Fischpinte. Aber wir sind keine Fischpinte.«
    »Es tut mir Leid. Ich kann zurückfahren und ...«
    »Machen Sie sich keine Mühe. Dann müssen wir eben erspüren, welcher der Gäste einen kleineren Magen hat.«
    Der Händler entschuldigte sich erneut. Er entschuldigte sich im Hinausgehen, und wahrscheinlich entschuldigte er sich noch auf der Rückfahrt bei sich selber, während Jérôme schon wieder in der prachtvollen Küche des Troigros stand und sich mit den Anforderungen der Abendkarte auseinander setzte. Die Hummer hatte er vorübergehend in einer Wanne mit frischem Wasser zwischengelagert, wo sie apathisch verharrten.
    Eine Stunde verging, dann beschloss Jérôme, die Tiere anzublanchieren. Er hatte einen großen Kessel Wasser aufsetzen lassen. Es empfahl sich, lebende Hummer schnell zu verarbeiten. Die Tiere neigten dazu, sich in Gefangenschaft selber innerlich aufzuzehren. Anblanchieren hieß, sie nicht gar zu kochen, sondern nur in siedendem Wasser zu töten. Später, unmittelbar vor dem Servieren, wurden sie dann fertig gegart. Jérôme wartete, bis das Wasser kochte, entnahm die Hummer der Wanne und ließ sie schnell kopfüber hineingleiten. Mitvernehmlichem Quietschen entwich Luft aus den Hohlräumen der Panzerungen. Einen nach dem anderen beförderte er auf diese Weise in den Kessel und sofort wieder heraus. Der neunte, der zehnte Hummer gab sein Leben auf. Jérômes Hand bekam den elften zu fassen – ach, richtig, der war ja leichter! – und entließ ihn ins kochende Wasser. Zehn Sekunden würden reichen. Ohne richtig hinzuschauen hebelte er das Tier mit seiner großen Schaumkelle wieder nach draußen ...
    Ein unterdrückter Fluch entfuhr ihm.
    Was um alles in der Welt war mit dem Tier geschehen? Der Panzer war regelrecht auseinander gerissen, eine der Scheren abgesprengt. Nicht zu fassen. Jérôme schnaubte vor Wut. Er legte den Hummer, genauer gesagt dessen derangierte Reste, vor sich auf die Arbeitsplatte und drehte ihn auf den Rücken. Auch die Unterseite war demoliert, und im Innern, wo sich kräftiges Fleisch hätte verbergen müssen, zeigte sich nur ein schmieriger, weißlicher Belag. Fassungslos sah er in den Kessel. Im blubbernden Wasser trieben Stücke und Fäden von etwas, das nicht mal mit viel Phantasie als Hummerfleisch durchging.
    Nun gut. Sie würden nur zehn der Tiere wirklich brauchen. Jérôme kaufte nie zu knapp ein, er war dafür bekannt, die Waage zu halten. Man musste sehr genau wissen, welche Mengen tatsächlich benötigt wurden, sowohl im Interesse der Wirtschaftlichkeit als auch im Hinblick auf Sicherheitsreserven, und soeben ging das Konzept mal wieder auf.
    Ärgerlich war die Sache dennoch.
    Er fragte sich, ob das Tier krank gewesen war. Sein Blick fiel auf die Wanne. Ein Hummer war noch übrig. Der Zweite von den beiden, mit denen er unzufrieden war. Egal. Ab mit ihm in den Topf.
    Ach nein, darin schwamm ja das weiße Zeug.
    Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Das kranke Tier war zu leicht gewesen. Der noch lebende Hummer war ebenfalls zu leicht.

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