Das Koenigreich der Luefte
1
Molly Templar saß niedergeschlagen neben der Laderampe der Wäscherei in der Handsome Lane; ein leerer Karren wies auf die volle Wanne mit Kleidung hin, die irgendwo im Gebäude vor sich hinschäumte. Zumindest versuchte Molly sich vorzustellen, wie es sich wohl anfühlte, wenn man niedergeschlagen war, und verzog deshalb ihr sommersprossiges Gesicht, um dieser Stimmung Rechnung zu tragen.
Doch dann erschien statt des Büttels Rachael, ein Armenhaus-Mädchen wie sie, um sie abzuholen, und daher verfehlte Mollys gelungene Zuschaustellung von Niedergeschlagenheit ihre volle Wirkung.
Damson Snell, die Vorsteherin der Wäscherei, kam herbei, um nachzusehen, wer gekommen war, und sie wirkte enttäuscht, dass es nur ein weiteres Mädchen aus dem Armenhaus von Sun Gate war. »Ist der Büttel zu beschäftigt, um sich selbst anzusehen, was für erbärmliche Faulenzerinnen er meinem Geschäft aufzwingt?«
»Er lässt sich entschuldigen, Miss«, sagte Rachael. »Er hat anderweitige Verpflichtungen.«
»Nun, du kannst ihm ausrichten, dass ich für Arbeiterinnen, die so schlampig sind wie die da, keine Verwendung habe.« Snell deutete auf Molly. »Weißt du, wobei ich sie erwischt habe?«
»Nein, Miss.« Rachaels Ton ließ jedoch vermuten, dass sie eine ungefähre Ahnung hatte.
»Beim Lesen!« Damson Snells Gesicht wurde rot vor Entrüstung. »Ein feiner Herr hatte einen Groschenroman in der Tasche seines Mantels gelassen, und die« – ihr Finger zuckte in Mollys Richtung – »ist so frech und liest ihn einfach. Und als ich ihr eine geknallt hab, wurde sie auch noch pampig. Eine hübsche kleine Madam ist das, so viel steht mal fest. Du kannst dem Büttel sagen, dass wir hier ein ordentliches Geschäft haben, wo gearbeitet wird, und keine Bücherei. Wenn ich ’ne Dichterin will, dann such ich mir ’ne ausgebildete Schreiberin und keinen Abschaum aus’m Sun Gate.«
Rachael nickte mit zerknirschter, verständnisvoller Miene, dann zog sie Molly hinter sich her, bevor die Wäschereibesitzerin in ihrer Tirade fortfahren konnte.
»Die hat’s nötig, Vorträge über ordentliche Geschäfte zu halten«, sagte Molly, als sie außer Hörweite waren. »Sie steckt dem Büttel zwanzig Schillinge im Monat zu und bekommt dafür umsonst Arbeiter aus dem Armenhaus. Nur leider sieht ihr ordentlicher Geschäftssinn nicht vor, denen einen gerechten Lohn zu zahlen, die nichts außer ihrer Arbeitskraft zu verkaufen haben.«
Rachael seufzte. »Du verwandelst dich allmählich in eine kleine Carlistin, Molly. Mich wundert, dass du nicht rausgeworfen wurdest, weil du versucht hast, ein Arbeiterkombinat zu organisieren. Bei diesem Groschenroman aus der Tasche des feinen Herrn handelte es sich nicht zufällig um eine Ausgabe von Gemeinschaft und das gemeine Volk, oder?«
»Bei einem ihrer Kunden?« Molly schnaubte. »Nein, es war ein Seefahrerroman. Vom hübschen Luftschiff Affray und der Jagd nach dem Tauchbootpiraten Samson Dark.«
Rachael nickte. Im Königreich Jackals wimmelte es vor Schreibern, die für die Verlagshäuser am Dock Yard Helden, Banditen, Straßenräuber und Freibeuter aufstöberten, um mit ihren Geschichten die Seiten der kleinformatigen Zeitungen wie der Middlesteel Illustrated und der vielen Groschenheftchen zu füllen. Fakten und Fiktion, Wirklichkeit und Erfindung wurden dabei zu hübschen Fortsetzungsberichten zurechtgestutzt, um die Leser bei der Stange zu halten. Die fantasievolleren Geschichten bedienten sich sogar bei den Legenden und beschworen die Götter aus den dunklen Tagen jener Zeit herauf, bevor die Bürger von Jackals sich den zirklistischen Meditationen zugewandt hatten. In ihren Geschichten schrieben sie Teufel herbei wie die Wolfschnapper – grausame Wesen, ausgesandt, die Bösen zu entführen und den Unmoralischen mit ihren schwarzen Mänteln und scharfen Zähnen Angst einzujagen.
Im Armenhaus boten diese Geschichten glänzende Ablenkung, so unmöglich weit entfernt waren sie vom Leben der Kinder, geprägt von Schmutz und Hunger. Molly wollte, dass diese Geschichten wahr waren, einfach nur, damit es zumindest irgendwo hell erleuchtete Ballsäle und gut aussehende Offiziere auf tänzelnden Pferden gab. Aber die nüchterne, realistische Seite ihres Wesens war sich darüber im Klaren, dass Samson Dark vermutlich ein gewalttätiger alter Säufer gewesen war, mit einem mörderischen Temperament und großer Gier nach Gütern, die er selbst nie als Ladung bekommen hätte, weil er
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