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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Territorium. Dass die Traditionen der Nootka eng mit der Landschaft Vancouver Islands verbunden waren und die Mythologie tief in der Natur wurzelte, war der Hut, unter den sich alles bringen ließ. Ab da wurde es vertrackt. Grundsätzlich erzählte man sich bei den Nootka Schöpfungsgeschichten, in denen die Figur desTransformers, des Gestaltwandlers, die Hauptrolle spielte. Speziell im Stamm der Dididath kam Wölfen eine große Bedeutung zu, aber es gab natürlich auch Geschichten über Orcas. Wer allerdings im Bemühen, etwas über Orcas zu erfahren, die Wolfsgeschichten außer Acht ließ, beging schon den ersten großen Fehler, weil im Transformer-Zyklus Menschen und Tiere geistig miteinander verbunden waren. Als Folge verfügten nicht nur alle Kreaturen über die Möglichkeit der Transformation in andere Wesen, manche waren zu allem Überfluss auch noch mit einer Doppelnatur ausgestattet: Ging ein Wolf ins Wasser, verwandelte er sich natürlich in einen Killerwal, kam ein Killerwal an Land, wurde er zum Wolf. Orcas und Wölfe waren ein und dieselbe Wesenheit, und Geschichten über Orcas zu erzählen, ohne dabei an Wölfe zu denken, war in den Augen eines Nootka völliger Blödsinn.
    Weil die Nootka aus alter Tradition Walfänger waren, hatten sie unzählige Geschichten über Wale in petto. Aber noch lange nicht jeder Stamm erzählte die gleichen Geschichten, und die gleichen wurden etwas anders erzählt, je nachdem, wohin man kam. Zu den Nootka gehörten im Übrigen auch die Makah – oder auch nicht, wie einige meinten, zumindest sprachen beide Wakashan –, die neben den Eskimos als einziger Stamm Nordamerikas ein vertragliches Recht auf Walfang hatten und derzeit für Diskussionsstoff sorgten, weil sie nach fast einem Jahrhundert Fangabstinenz wieder davon Gebrauch machen wollten. Die Makah lebten nicht auf Vancouver Island, sondern auf dem gegenüberliegenden nordwestlichen Zipfel des Staates Washington. In ihren Mythen gab es diverse Geschichten über Wale, die sich auch bei den Nootka auf der Insel fanden. Was hingegen die Beweggründe eines Wals anging, sein Denken und Fühlen, seine Absichten, hatte jeder seine eigene Betrachtungsweise. Wie auch anders bei einem Wesen, das man nicht einfach als Wal kannte, sondern als iihtuup, als ›Großes Mysteriums‹
    Tu etwas Außergewöhnliches.
    Nun, außergewöhnlich war es allemal, die Indianer zu Rate zu ziehen. Ob es außergewöhnlich viel brachte, würde sich zeigen.
    Anawak grinste säuerlich. Ausgerechnet er.
    Für jemanden, der seit zwei Jahrzehnten in der Gegend von Vancouver lebte, wusste er wenig über die hiesigen Indianer, weil er im Grunde nichts wissen wollte. Nur hin und wieder überkam ihn eine unbestimmte Sehnsucht nach ihrer Welt. Das Gefühl war ihm jedes Mal peinlich, sodass er es niederkämpfte, bevor es an Größe gewinnen konnte. Unterm Strich war er, den Delaware für einen Makah hielt, denkbar ungeeignet, sich in einheimische Mythen zu versenken.
    Und Greywolf war es noch viel weniger.
    Greywolf ist jämmerlich, dachte er voller Erbitterung. Kein Indianer läuft heute noch mit einem läppischen Wildwest-Nachnamen herum. Die Chiefs der Stämme hießen Norman George oder Walter Michael oder George Frank. Keiner nannte sich John Two Feathers oder Lawrence Swimming Whale. Nur ein hirnloser Angeber wie Jack O'Bannon leistete sich diese Kinderbuchromantik. Ausgerechnet Jack, der das Wort Indianer auf der Stirn stehen hatte, war zu blöde, wenigstens wie ein richtiger Indianer zu heißen.
    Greywolf war ein Ignorant!
    Und er selber?
    Wir schenken uns nichts, dachte er verdrossen. Der eine sieht aus wie ein Indianer und weist alles Indianische von sich. Der andere ist keiner und versucht mit aller Gewalt, einer zu sein. Wir sind beide Ignoranten.
    Jeder eine lächerliche Figur. Zwei Versehrte.
    Dieses verdammte Knie! Es machte ihn nachdenklich. Er wollte nicht nachdenken! Er brauchte keine Alicia Delaware, die ihn mit altkluger Studentenmiene den Weg zurückstieß, den er gekommen war.
    Wen konnte er fragen?
    George Frank!
    Das war einer der Chiefs, die er kannte. Man war ja nicht aus der Welt. Weder Weiße noch Indianer pflegten außerhalb der offiziellen Zusammenkünfte im Job und bei einem gelegentlichen Bier ausgiebigen Kontakt, aber man hatte auch nichts gegeneinander. Es herrschte Koexistenz. Zwei Welten, die einander in Frieden ließen. Dennoch entstanden hin und wieder Freundschaften. George Frank war weniger als ein Freund, aber immerhin

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