Der Schwarm
eine Bekanntschaft: ein netter Kerl und außerdem taayii hawil der Tla-o-qui-aht, eines Nootka-Stammes auf dem Gebiet um Wickaninnish. Ein hawil war ein Chief, ein Häuptling, der taayii hawil sogar noch etwas mehr, der oberste Chief sozusagen. Mit den taayii hawiih war es ein bisschen wie mit dem englischen Königshaus. Ihr Rang war durch die Erbfolge festgelegt. Im Alltag wurden die meisten Stämme mittlerweile von gewählten Chiefs regiert, aber die Erbhäuptlinge erfreuten sich dennoch höchster Achtung.
Anawak überlegte. Im Norden der Insel nannten sie die obersten Chiefs taayii hawiih, im Süden taayii chaachaabat. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Wahrscheinlich war George Frank eher taayii chaachaabat, aber wer zum Teufel sollte sich das merken?
Besser, indianische Ausdrücke zu meiden.
Er könnte George Frank besuchen. Es war nicht weit. Frank wohnteunweit des Wickaninnish Inn. Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke. Anstatt auf Fords Anruf zu warten, konnte er den Kreis durchbrechen und sehen, wohin es ihn führte. Er blätterte im Telefonbuch nach Franks Nummer und rief ihn an.
Der taayii hawil war zu Hause. Er schlug vor, gemeinsam am Fluss spazieren zu gehen.
»Du bist also gekommen, um etwas über die Wale zu erfahren«, sagte Frank, als sie eine halbe Stunde später unter dicht belaubten Riesenbäumen hindurchgingen.
Anawak nickte. Er hatte Frank erklärt, warum er hier war. Der Chief rieb sich das Kinn. Er war ein kleiner Mann mit knittrigem Gesicht und freundlichen dunklen Augen. Sein Haar war ebenso schwarz wie das von Anawak. Unter seiner Windjacke trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift Salmon Coming Home.
»Du erwartest jetzt hoffentlich keine Indianerweisheiten von mir?«
»Nein.« Anawak war froh über diese Antwort. »John Ford hatte die Idee.«
»Welcher?« Frank lächelte. »Der Regisseur oder der Direktor des Vancouver Aquarium?«
»Der Regisseur ist, glaube ich, tot. Wir versuchen’s halt an allen Fronten. Und sei es nur, dass es in irgendeiner eurer Geschichten etwas gibt, das auf ähnliche Vorfälle hindeutet.«
Frank wies auf den Fluss, an dessen Ufer sie entlangwanderten. Das Wasser bahnte sich gurgelnd seinen Weg. Es trieb Geäst und Blätter mit sich. Der Fluss entsprang in den rauen Hochgebirgslandschaften und war teilweise versandet.
»Da hast du deine Antwort«, sagte er.
»Im Fluss?«
Frank grinste. »Hishuk ish ts'awalk.«
»Okay. Also doch Indianerweisheiten.«
»Nur eine. Ich dachte, du kennst sie.«
»Ich kann eure Sprache nicht. Hier und da mal ein paar Brocken aufgeschnappt. Das war's.«
Frank musterte ihn einige Sekunden.
»Na ja, es ist der Kerngedanke fast aller indianischen Kulturen. Die Nootka reklamieren ihn für sich, aber ich schätze, anderswo sagen die Menschen dasselbe in anderen Worten: Alles ist eins. Was mit dem Fluss passiert, passiert mit den Menschen, den Tieren, dem Meer. Was einem geschieht, geschieht allen.«
»Stimmt. Andere nennen es Ökologie.«
Frank bückte sich und zog einen losen Ast ans Ufer, der sich im Wurzelgestrüpp entlang des Flusses verfangen hatte.
»Was soll ich dir erzählen, Leon? Wir wissen nichts, was du nicht auch weißt. Ich kann gerne für dich die Ohren spitzen. Ich rufe ein paar Leute an. Es gibt viele Lieder und Legenden. Aber ich kenne keines, das euch weiterhelfen würde. Ich meine, in allen unseren Überlieferungen wirst du exakt das finden, wonach du suchst, und genau da liegt das Problem.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Na ja, wir sehen Tiere etwas anders. Die Nootka haben nie einfach das Leben eines Wals genommen. Der Wal hat sein Leben geschenkt, das ist ein bewusster Akt, verstehst du? Im Glauben der Nootka ist sich die ganze Natur ihrer selbst bewusst, ein großes, miteinander verflochtenes Bewusstsein.« Er ging einen morastigen Pfad entlang. Anawak folgte ihm. Der Wald öffnete sich zu einer großen, kahl geschlagenen Fläche. »Schau dir das an, eine Schande. Der Wald ist abgeholzt, Regen, Sonne und Wind erodieren den Boden, und die Flüsse verkommen zu Kloaken. Sieh es dir an, wenn du wissen willst, was die Wale umtreibt. Hishuk ish ts'awalk.«
»Mhm. Habe ich dir eigentlich je erzählt, worin meine Arbeit besteht?«
»Du suchst nach Bewusstsein, glaube ich.«
»Nach Selbstbewusstsein.«
»Ja, ich erinnere mich. Du hast es erzählt im Verlauf eines schönen Abends. Letztes Jahr war das. Ich habe Bier getrunken und du Wasser. Du trinkst immer
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