Der Schwarm
und ins offene Meer gezogen. An sich waren sie vorsichtig und erfahren, aber ... na ja.« Sie zuckte die Achseln. »Das Meer ist immer anders.«
»Hat man sie gefunden?«, fragte Anawak leise.
»Nein.«
»Und du? Wie bist du damit zurechtgekommen?«
»Eine Zeit lang war es ziemlich hart. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, weißt du. Wir sind ständig nur gereist. Sie waren beide Lehrer und fasziniert vom Wasser. Alles haben wir gemacht, Segeln auf den Malediven, Tauchen im Roten Meer, Höhlentauchen in Yucatan. Sogar vor Schottland und Island sind wir runter. Natürlich blieben sie näher an der Oberfläche, wenn ich dabei war, aber ich hab trotzdem alles gesehen. Nur auf die gefährlichen Tauchgänge haben sie mich nicht mitgenommen. – Und den einen haben sie dann auch nicht überlebt.« Sie lächelte. »Aber du siehst ja, es ist noch was aus mir geworden.«
»Ja.« Er lächelte zurück. »Nicht zu übersehen.«
Es war ein trauriges, hilfloses Lächeln. Eine Weile sah er sie einfach nur an. Dann rutschte er von seinem Hocker. »Ich glaube, ich sollte es mal mit Schlafen versuchen. Morgen fliege ich zur Beerdigung.« Er zögerte. »Also, gute Nacht und ... danke.«
»Wofür?«
Danach saß sie vor ihrem halb ausgetrunkenen Baileys und dachte an ihre Eltern und an den Tag, als die Leute von der Hotelleitung gekommen waren und die Managerin ihr gesagt hatte, sie müsse jetzt ganz tapfer sein. Tapferes, kleines Mädchen. Starke, kleine Karen.
Sie ließ den Likör im Glas hin- und herschwappen.
Wie hart es gewesen war, hatte sie Anawak nicht erzählt. Nichts davon, wie ihre Großmutter sie zu sich genommen hatte, ein verstörtes,verängstigtes Kind, das seine Trauer in Wut umsetzte, sodass die alte Frau nicht mit ihr fertig wurde. Wie sich ihre Leistungen in der Schule rapide verschlechterten, zeitgleich mit ihrem Umgang. Nichts vom ständigen Ausreißen und Herumziehen, von den ersten Joints und den härteren Sachen, von der Zeit als Punk auf der Straße und wie es war, ständig betrunken oder bekifft zu sein und mit jedem zu schlafen, der nicht Nein sagte. Und Nein gesagt hatte eigentlich keiner. Dann kleinere Diebstähle, Schulverweis, eine schlampig durchgeführte Abtreibung, härtere Drogen, Autoknacken, Jugendamt. Ein halbes Jahr im Heim für schwer Erziehbare. Den Körper voller Piercings. Glatze und Narben. Seelisch und körperlich ein Schlachtfeld.
Tatsächlich hatte der Unfall ihrer Liebe zum Meer keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Mehr denn je übte es eine dunkle Faszination auf sie aus, schien sie zu rufen, hinab zum Grund, wo ihre Eltern warteten. So heftig lockte die See, dass sie eines Nachts per Anhalter nach Brighton gefahren und weit hinausgeschwommen war, und als das ölig schwarze, mondbeschienene Wasser die Lichter des Badeorts beinahe verschluckte, hatte sie sich langsam unter die Oberfläche sinken lassen und versucht zu ertrinken.
Aber man ertrank nicht so einfach.
Sie hatte in der Lichtlosigkeit des Kanals gehangen, mit angehaltenem Atem, und ihre Herzschläge gezählt, bis sie in den Ohren dröhnten. Anstatt ihre Lebenskraft in sich aufzunehmen, hatte das Meer sie ihr gezeigt: so stark, dieses Herz! So trotzig dagegen anschlagend, dass sie sich der kalten Umarmung ergeben wollte, und plötzlich hatte der Atemreflex eingesetzt und sie gezwungen, Wasser in ihre Lungen aufzunehmen. Was nun geschah, davon hatte sie ihren Vater oft genug reden hören. Schaum würde sich in der Lunge bilden, das filigrane Netzwerk aus Bläschen in sich zusammenfallen, akuter Sauerstoffmangel zum Tod führen. Zwei Minuten bis zum Krampfstadium des Zwerchfells, keine Atmung mehr möglich. Fünf Minuten bis zum Herztod.
Sie war nach oben geschossen und aufgetaucht aus dem Alptraum, der mit ihrem zehnten Lebensjahr begonnen hatte und mit ihrem sechzehnten endete, unmittelbar neben einem Kutter. Man brachte sie mit einer schweren Unterkühlung ins Krankenhaus, wo sie genügend Zeit fand, Mut und Entschlossenheit in einen Plan zu binden. Nach ihrer Entlassung betrachtete sie ihren Körper eine Stunde lang im Spiegel und beschloss, ihn nie wieder so sehen zu wollen. Sie entfernte die Piercings, hörte auf, ihren Schädel zu rasieren, versuchte zehn Liegestütze und brach zusammen.
Nach einer Woche gelangen ihr zwanzig.
Mit aller Macht versuchte sie zurückzuerlangen, was ihr verlorengegangen war. Die Schule nahm sie wieder auf unter der Bedingung, dass sie sich einer Therapie unterzog, und sie
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