Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
willigte ein. Zeigte sich lernwillig und diszipliniert. War zuvorkommend und freundlich zu jedermann. Las, was immer sie in die Finger bekommen konnte, vorzugsweise über das Ökosystem Erde und die Ozeane. Kein Tag verging, an dem sie nicht trainierte. Seit der Kanal sie freigegeben hatte, lief, schwamm, boxte und kletterte sie, um die letzten Spuren der verlorenen Zeit zu tilgen, bis nichts mehr an das dünne, hohläugige Mädchen erinnerte, das sie gewesen war. Als sie mit neunzehn und einjähriger Verspätung einen glänzenden Collegeabschluss hinlegte und sich an der Universität für Biologie und Sport einschrieb, glich ihr Körper den Darstellungen hellenischer Wettkämpfer.
    Karen Weaver war ein neuer Mensch geworden.
    Mit einer alten Sehnsucht.
    Um die Welt zu verstehen, wie sie funktionierte, belegte sie außerdem Informatik. Die Darstellung komplexer Zusammenhänge durch Computer begeisterte sie, und sie ruhte nicht eher, bis sie selber in der Lage war, Abläufe in Ozean und Atmosphäre virtuell darzustellen. Ihre erste Arbeit gab ein umfassendes Bild der Meeresströmungen wieder, das dem allgemeinen Wissen zwar nichts Neues hinzufügte, nur dass es von großer Brillanz und Stimmigkeit war: eine Hommage an zwei Menschen, die sie geliebt und zu früh verloren hatte. Indem sie den Kopf unter Wasser steckte und forschte, gab sie etwas zurück von dem, was sie im Überfluss erhalten hatte: Liebe und Wissen. Sie gründete ihr PR-Büro Deepbluesea, schrieb für Science und National Geo graphic, erhielt Kolumnen in populärwissenschaftlichen Titeln und zog das Interesse der Institute auf sich, die sie zu Expeditionen einluden, weil sie eine Stimme brauchten, um ihren Ideen Gestalt zu geben. Mit der MIR reiste sie zur Titanic, die Alvin brachte sie zu den hydrothermalen Schloten des Atlantischen Tiefseerückens, die Polarstern zum Überwintern in die Antarktis. Überall war sie mit dabei, und aus allem machte sie das Beste, weil sie seit der Nacht im Kanal keine Furcht mehr kannte. Nichts und niemand machte ihr mehr Angst.
    Bis auf das Alleinsein. Gelegentlich.
    Sie sah sich im Spiegel der Bar stehen, nass, in Frottee gehüllt, einigermaßen ratlos.
    Schnell stürzte sie den Baileys hinunter und ging zu Bett.

[ Menü ]
    14. Mai
    Anawak
    Das Motorengeräusch begann ihn langsam, aber sicher einzuschläfern.
    Nachdem er sich endlich zu der Reise durchgerungen hatte, war Anawak von Schwierigkeiten ausgegangen. Er hatte gedacht, Li würde ihn vielleicht nicht gehen lassen, aber sie hatte ihn regelrecht gedrängt, das nächste Flugzeug zu nehmen.
    »Wenn ein Elternteil stirbt oder ein Kind, muss man zu seiner Familie. Sie würden es sich nie verzeihen, wenn Sie hier blieben. Die Familie ist das Wichtigste im Leben. Nur in der Familie herrscht Verlass. Seien Sie erreichbar. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«
    Jetzt, als Anawak im Flugzeug saß, fragte er sich, ob Li überhaupt Familie besaß.
    Und er? Besaß er Familie?
    Absurd. Jemand, der möglicherweise keine Beziehung zu seiner Familie hatte, sang jemandem, der ebenso wenig eine hatte, das Hohelied der engeren Verwandtschaft.
    Sein Sitznachbar, ein Klimaforscher aus Massachusetts, begann leise zu schnarchen. Anawak stellte die Lehne seines Sitzes ein Stück nach hinten und sah aus dem Fenster. Er war seit Stunden mit sich und seinen Gedanken allein, und noch war er nicht sicher, ob es ihm gut tat. Eine Boeing der Canadian Airlines International hatte ihn von Vancouver zuerst zum Toronto Pearsons Airport geflogen, wo gelandete Maschinen in langen Reihen auf ihre Abfertigung warteten. Über Toronto war ein ungewöhnlich heftiges Gewitter niedergegangen und hatte den Flugbetrieb vorübergehend lahm gelegt. Anawak war es vorgekommen wie ein böses Omen. Voller Unruhe saß er in der Abfertigungshalle des Toronto Airport, während draußen eine Maschine nach der anderen an den ziehharmonikaförmigen Fingern festmachte, bis es mit zweistündiger Verspätung endlich weiterging nach Montreal.
    Von da an war alles glatt verlaufen. Er hatte in der Nähe des Dorval Airport ein Zimmer in einem Holiday Inn gebucht und früh wieder im Warteraum gesessen. Erste Anzeichen deuteten darauf hin, dass er in eine andere Welt übertrat. Eine Gruppe von Männern stand mit dampfenden Kaffeebechern am großen Panoramafenster. Sie trugen dieEmbleme von Ölfirmen auf ihren Overalls und schienen nur etwas Handgepäck mit sich zu führen. Zwei von ihnen hatten Gesichter wie Anawak.

Weitere Kostenlose Bücher