Der Schwarm
dem silberfarbenen Schnurrbart.
»Ist alles in Ordnung, Junge?«
»Ja, sicher«, murmelte er.
»Guter Gott! Kannst dich ja kaum auf den Beinen halten«, sagte Akesuk mitleidig. Viele der Trauergäste schauten herüber.
»Es geht schon. Danke, Iji. Es geht.«
Er sah den Leuten an, was sie dachten, und sie lagen meilenweit daneben. Aus ihren Blicken sprach Trauerroutine. An Gräbern geliebter Menschen bricht man eben zusammen. Auch wenn man ein Inuk ist und stolz darauf, vor nichts und niemandem zu kapitulieren.
Außer vielleicht vor Alkohol und Drogen.
Anawak fühlte, wie ihm übel wurde.
Er wandte sich ab und verließ den Friedhof mit schnellen Schritten. Sein Onkel hielt ihn nicht zurück. Vor der Kirche, als er das fest gestampfte Erdreich der Straße unter seinen Füßen spürte, überkam ihn der Drang wegzulaufen, aber er lief nicht. Er ging ein paar Schritte hierhin, dorthin, mit wild schlagendem Herzen. Er wusste nicht, wohin er hätte laufen sollen. Keine Richtung war für ihn bestimmt.
Er nahm ein frühes Abendessen in der Polar Lodge ein. Mary-Ann hatte etwas vorbereitet, aber Anawak erklärte seinem Onkel, er wolle allein sein. Der Alte nickte nur knapp und fuhr ihn zum Hotel. Er sah traurig aus und nicht so, als kaufe er Anawak den Wunsch nach stiller Einkehr mit sich und seinem Vater ab.
Stundenlang lag Anawak auf einem der beiden Einzelbetten in seinem Zimmer und starrte in den laufenden Fernseher. Er fragte sich, wie er einen weiteren Tag in Cape Dorset überstehen und sich zugleich die Erinnerungen vom Leib halten sollte. Er hatte sich für zwei Nächte eingebucht, weil damit zu rechnen war, dass es einen Nachlass und irgendwelche Formalitäten zu regeln gab, aber Akesuk hatte sich bereits um alles gekümmert. Im Grunde war er nutzlos. Ebenso gut konnte er sofort wieder abreisen.
Er beschloss, die zweite Nacht zu canceln. Ein Rückflug nach Iqaluit würde sich kurzfristig einrichten lassen. Mit etwas Glück ergatterte er einen Platz in der Boeing, die ihn zurück nach Montreal flog. Einmal dort, war es ihm egal, wie lange er auf den Anschlussflug zu warten hatte. Montreal war sehenswert und vor allen Dingen weit weg von diesem schrecklichen Ende der Welt namens Cape Dorset.
Schließlich überkam ihn der Schlaf.
Anawak schlief, aber sein Geist versuchte weiterhin, Nunavut zu entrinnen. Er sah sich im Flugzeug sitzen und über Vancouver kreisen. Unablässig kreisten und kreisten sie und warteten auf die Erlaubnis, tiefer gehen zu dürfen, aber der Tower verweigerte die Landung. Der Pilot drehte sich zu Anawak um und sagte:
»Wir dürfen hier nicht landen. Sie können nicht nach Vancouver, und nach Tofino können Sie auch nicht.«
»Warum?«, rief Anawak. »Warum können wir nicht landen?«
»Die Bodenkontrolle meint, es sei Ihretwegen. Die sagen, Sie sind hier nicht zu Hause.«
»Aber ich lebe in Vancouver. Ich wohne in Tofino auf einem Schiff.«
»Wir haben nachgefragt. Sie wohnen nirgendwo dort. Kein Leon Anawak ist da unten bekannt. Die Bodenkontrolle sagt, ich soll Sie nach Hause bringen, also wohin soll ich fliegen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie müssen doch wissen, wo Sie zu Hause sind.«
»Da unten ist mein Zuhause.«
»Gut.«
Die Maschine sackte ab und setzte zur Landung an. Sie drehten mehrere Kurven. Die Lichter der Stadt kamen näher, aber es waren zu wenige für Vancouver, viel zu wenige. Das war nicht Vancouver. Überall lag Schnee, Eisschollen trieben auf einer schwarzen See, im Hintergrund erhob sich ein marmoriertes Gebirge.
Sie landeten in Cape Dorset.
Plötzlich war er wieder zu Hause bei seinen Eltern, die beide noch lebten und ein Fest mit ihm feierten. Es war sein Geburtstag. Viele Kinder aus der Nachbarschaft waren gekommen, alle tanzten ausgelassen um ihn herum, und sein Vater schlug vor, einen Wettlauf durch den Schnee zu machen. Er überreichte Anawak ein riesiges, grob verschnürtes Paket und erklärte ihm, dies sei sein einziges Geschenk und sehr kostbar.
»Darin findest du alles, was du für dein späteres Leben brauchst«, sagte er. »Aber du musst es mitnehmen, wenn wir draußen laufen.«
Anawak versuchte, das Riesenpaket mit beiden Armen über seinem Kopf zu balancieren. Sie gingen nach draußen, wo der Schnee in der Dunkelheit leuchtete, und eine Stimme flüsterte ihm zu, dass ihm keine Wahl bliebe, als das Rennen zu gewinnen, weil die anderen beschlossen hätten, ihn sonst zu töten. Niemand habe sich getraut, es ihm zu verraten, aber
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