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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Friedhof auf der entgegengesetzten Seite des Orts. Anawak sah auf die Uhr. Reichlich Zeit. Er hatte mit Akesuk vereinbart, dass ihn der Onkel in seinem Pick-up mitnahm. Gleich neben der Lodge an der Straße, die zum Strand führte, lag der Polar Supply Store. Bei näherem Hinsehen fiel Anawak auf, dass der Laden zugleich örtliche Paketauslieferung, Fahrzeugverleih und Autoreparaturwerkstatt war. Das Gebäude war ihm von früher in Erinnerung, aber das Schild war neu, und als Anawak eintrat, kamen ihm die zwei Männer hinter der Theke fremd vor. Sie waren beide keine Inuit. Er stöberte ein bisschen herum. Es war gemütlich und ramschig im Innern, und es gab fast alles, von getrockneten Karibu-Würsten bis zu warmen Stiefeln. Im hinteren Teil stapelten sich Lithographien und Skulpturen.
    Nicht seine Welt.
    Er ging und schlenderte die Straße entlang in Richtung Zentrum. Vor einem Haus saß ein alter Mann an einem fußhohen Lattengestell und bearbeitete die Statuette eines Seetauchers, ein Stück weiter war eine Frau damit befasst, einen Falken aus weißem Marmor zu schleifen. Beide grüßten ihn, und Anawak grüßte im Weitergehen zurück. Er spürte, wie ihre Blicke ihm folgten. Seine Ankunft musste wie ein Lauffeuer durch den Ort gegangen sein. Ihn vorzustellen wäre gar nicht nötig gewesen. Jeder wusste, dass der Sohn des verstorbenen Manumee Anawak in Cape Dorset eingetroffen war, und vermutlich zerfetzten sie sich bereits die Mäuler darüber, warum er im Hotel wohnte und nicht unter dem Dach seines Onkels.
    Akesuk wartete vor dem Haus auf ihn. Sie fuhren die paar hundert Meter zur anglikanischen Kirche, vor der sich bereits eine ziemliche Menschenmenge versammelt hatte.
    Anawak fragte, ob sie alle seines Vaters wegen da wären.
    Akesuk sah ihn verwundert an. »Natürlich. Was dachtest du denn?«
    »Ich wusste nicht, dass er so viele ... Freunde hat.«
    »Es sind die Menschen, mit denen er lebte. Ob Freunde oder nicht, was spielt das für eine Rolle? Wenn jemand stirbt, geht er von allen, und alle gehen das letzte Stück mit ihm.«
     
    Die Beisetzung war kurz und unsentimental. Anawak hatte im Vorfeld viele Hände zu schütteln. Leute, die er nie zuvor gesehen hatte, kamen auf ihn zu und umarmten ihn. Ein Reverend las aus der Bibel und sprach ein Gebet, dann wurde der Sarg in eine flache Grube gelassen, eben tief genug, um ihn aufzunehmen, und mit blauer Kunststofffolie abgedeckt. Männer begannen Steine darauf zu schichten. Das Kreuz am Ende der Grube saß windschief im harten Boden wie alle Kreuze auf dem Friedhof. Akesuk drückte Anawak eine kleine Holzkiste mit verglastem Deckel in die Hand, in der ein paar verschossene Kunstblumen nebst einem Päckchen Zigaretten und dem in Metall gefassten Zahn eines Bären lagen. Er stupste ihn an, und gehorsam trottete Anawak zum Grab und legte die Kiste unter das Kreuz.
    Akesuk hatte wissen wollen, ob er seinen Vater noch einmal zu sehen wünsche, aber Anawak hatte abgelehnt. Während der Reverend sprach, versuchte er sich vorzustellen, wer der Mann war, der in dem Sarg lag, und dass überhaupt jemand darin lag. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Tote keinen weiteren Fehler mehr begehen konnte. Sein Vater hatte sich endgültig in die Nichtexistenz verabschiedet und damit in ein Stadium jenseits aller Schuld und Unschuld. Was immer er zu Lebzeiten getan oder versäumt hatte, verlor jede Bedeutung angesichts des schmucklosen Sarges in der kalten Erde. Schon zuvor hatte es keine Rolle mehr gespielt. Für Anawak war der alte Mann vor so vielen Jahren gestorben, dass ihm die Beisetzung lediglich als überfälliges Zeremoniell erschien.
    Er gab sich keine Mühe, etwas zu empfinden. Er wünschte nur, so schnell wie möglich von hier fortzukommen.
    Zurück nach Hause.
    Wo war das?
    Mit einem Mal, während die Gemeinde um ihn herum ein Lied anstimmte, beschlich ihn ein eisiges Gefühl von Verlassenheit und Panik. Es lag nicht an der arktischen Kälte, dass es ihn zu schütteln begann. Er hatte an Vancouver und Tofino gedacht, aber da war kein Zuhause.
    Anawak blickte in ein schwarzes Loch.
    Sein Gesichtsfeld begann sich einzuengen, Spiralen drehten sich vor seinen Augen. Die Schwärze kam über ihn wie eine Woge, gewaltig und unabwendbar. Wie ein Tier saß er in der Falle, ohne Ausweg, und musste mit ansehen, wie sie sich auf ihn herabsenkte.
    »Leon.«
    Rasende Angst durchfuhr ihn.
    »Leon!«
    Akesuk hatte ihn am Arm gepackt. Anawak sah verwirrt in das faltige Gesicht mit

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