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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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unzweifelhaft hätten sie es vor. Bei Nacht würden sie sich allesamt in Wölfe verwandeln und ihn in Stücke reißen, wenn er nicht rasch genug unten am Wasser wäre, also sollte er besser die Beine in die Hand nehmen.
    Anawak begann zu weinen. Er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand ihm so etwas antun sollte. Er verwünschte seinen Geburtstag, weil er wusste, dass er bald erwachsen sein würde, und er wollte nicht erwachsen sein und zerrissen werden. Seine Finger in das Paket gekrallt, begann er zu laufen. Der Schnee war hoch, er versank mit beiden Beinen darin, bis zur Hüfte reichte er, sodass Anawak kaum vorankam. Er sah sich nach allen Seiten um, aber niemand lief mit ihm. Er war allein. Nur das Haus seiner Eltern lag ein Stück hinter ihm, mit verschlossener Tür, verdunkelt. Ein kalter Mond stand darüber, und mit einem Mal herrschte Totenstille.
    Anawak blieb stehen.
    Er überlegte, ob er zurück ins Haus gehen sollte, aber da war offenbar niemand mehr. Unheimlich und abstoßend erschien es ihm, ein Ort der Ungewissheit. Keine Menschenseele war zu sehen in der eisigen, mondbeschienenen Nacht, kein Laut erklang. Die Verheißung von den hungrigen Wölfen kam ihm in den Sinn, die darauf warteten, ihn bei lebendigem Leib zu fressen. Waren sie in dem Haus? Hatten sie schon ein Gemetzel angerichtet unter den Gästen? Aber nichts ließ darauf schließen. Cape Dorset und das Haus schienen auf geheimnisvolle Weise jenseits aller Naturgesetze zu liegen. Es war derselbe Platz, an dem eben noch seine Geburtstagsfeier stattgefunden hatte, aber zu einer anderen Zeit, in ferner Zukunft oder noch fernerer Vergangenheit. – Oder vielleicht stand die Zeit auch still, und er blickte auf ein gefrorenes Universum, in dem kein Leben möglich war.
    Seine Angst gewann die Oberhand. Er drehte sich um und begann hinunter zum Wasser zu stapfen. Kein Pier wartete dort wie im echten Cape Dorset, sondern nur eine Eiskante. Das Paket war geschrumpft, er konnte es mühelos mit einer Hand greifen, und jetzt kam er auch viel besser voran, sodass er nach wenigen Schritten die Kante erreicht hatte.
    Er sah hinaus.
    Mondlicht schimmerte auf schwarzen kräuseligen Wellen undtreibenden Eisplatten. Der Himmel war voller Sterne. Jemand rief seinen Namen. Die Stimme drang schwach aus einer Schneewehe herüber, und Anawak, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, näherte sich mit zögernden Schritten, bis er sehen konnte, dass es gar keine Wehe war, sondern zwei eng beieinander liegende Körper, von Schnee überpudert. Es waren seine Eltern. Sie starrten mit leerem Blick zum Himmel und waren entweder tot oder außerstande, mit ihm zu sprechen oder ihn wahrzunehmen.
    Ich bin erwachsen, dachte er. Ich muss dieses Paket auspacken.
    Er betrachtete es in seiner Handfläche.
    Winzig war es geworden. Er begann es auszuwickeln, aber im Innern war nur noch mehr Papier. Nichts kam zum Vorschein. Er rupfte das knitterige Zeug auseinander, zerknüllte Schicht um Schicht, warf es weg, bis es kein Päckchen mehr gab und keine reglos hingestreckten Eltern, sondern nur noch die Eiskante und das schwarze Wasser.
    Ein gewaltiger Buckel teilte die Wellen und verschwand wieder.
    Anawak wandte langsam den Kopf. Er erblickte ein kleines, schäbiges Haus, mehr eine Wellblechbaracke. Die Tür stand offen.
    Sein Zuhause.
    Nein, dachte er. Nein! Er begann zu weinen. Irgendetwas war schief gelaufen. Das war unmöglich sein Leben. Nicht sein Platz! So war das alles nicht geplant gewesen!
    Er hockte im Schnee und starrte auf die Hütte. Er konnte nicht aufhören zu weinen. Namenloses Elend erfasste ihn. Sein Schluchzen zerriss ihm fast die Brust, hallte vom Himmel wider, erfüllte die ganze Welt mit seiner Klage, eine Welt, in der niemand außer ihm existierte.
    Nein. Nein!
    Licht.
     
    Sein Zimmer in der Polar Lodge.
    Aufrecht saß Anawak im Bett. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Wecker zeigte 2.30 Uhr. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er aufstehen und den kleinen Kühlschrank öffnen konnte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er sah Wasser, Cola und Bier, griff nach einer Cola, öffnete sie und trank mit langen durstigen Schlucken. Die Dose in der Rechten trat er zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus.
    Das Hotel lag auf einer Anhöhe, sodass er den Ortsteil Kinngait und Teile der angrenzenden Viertel überblicken konnte. Es war klar und wolkenlos wie in seinem Traum, aber statt des unermesslichenSternenhimmels lag

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