Der Schwarm
hielten an. Anawak stieg aus, ging den Pier entlang und schaute hinaus auf das polarblaue Wasser. Akesuk folgte ihm ein Stück, ohne zu ihm aufzuschließen.
Der Pier war das Letzte, was Anawak gesehen hatte, als er Cape Dorset verlassen hatte. Nicht per Flugzeug, sondern mit dem Versorgungsschiff. Zwölf Jahre war er alt gewesen. Das Schiff hatte ihn und seine neue Familie mitgenommen, die voller Hoffnung und Vorfreude auf die neue Welt das Land verließ, und zugleich voller Heimweh nach dem Paradies im Eis, das schon so lange verloren war.
Nach fünf Minuten ging er mit langsamen Schritten zurück zum Pick-up und stieg wortlos ein.
»Ja, unser alter Hafen«, sagte Akesuk leise. »Der alte Hafen. Werd ich nie vergessen. Du bist damals auf und davon, Leon. Es hat allen das Herz gebrochen...«
Anawak sah ihn scharf an.
»Wem hat es das Herz gebrochen?«, fragte er.
»Nun ja, deinem ...«
»Meinem Vater? Euch? Irgendwelchen Nachbarn?«
Akesuk startete den Wagen.
»Komm«, sagte er. »Wir fahren nach Hause.«
Akesuk wohnte immer noch in dem kleinen Siedlungshaus. Es sah hübsch aus und gepflegt, hellblau mit dunkelblauem Dach. Dahinterstiegen die Hügel sanft an und gipfelten in einigen Kilometern Entfernung im Kinngait, dem hohen Berg, dessen Oberfläche von Schneeadern durchzogen war. Wie ein Gebirge aus Marmor lag er da, mehr ein gedrungener Höhenzug als ein hoher Berg. In Anawaks Erinnerung reichte der Kinngait in den Himmel. Dieser Gebirgskamm lud ein, ihn zu Fuß zu erkunden, versehen mit einer guten Ausrüstung.
Akesuk schaffte es, vor Anawak an der Ladefläche zu sein und den Rucksack herunterzuwuchten. So klein und schmächtig er war, schien es ihm nicht das Geringste auszumachen. Er hielt den Sack mit einer Hand und öffnete mit der anderen die Tür zu seinem Haus, ohne anzuklopfen.
»Mary-Ann«, rief er ins Innere. »Er ist da! Der Junge ist da!«
Ein Hundebaby kam nach draußen getapst. Akesuk stieg darüber hinweg, verschwand im Haus und kehrte Sekunden später in Begleitung einer fülligen Frau zurück, deren freundliches Gesicht sich auf ein imposantes Doppelkinn stützte. Sie umarmte Anawak und begrüßte ihn auf Inuktitut.
»Mary-Ann spricht kein Englisch«, sagte Akesuk entschuldigend. »Ich hoffe, du verstehst noch ein bisschen von deiner Sprache.«
»Meine Sprache ist Englisch«, sagte Anawak.
»Ja, natürlich ... mittlerweile.«
»Aber ich verstehe noch eine ganze Menge. Ich verstehe, was sie sagt.«
Mary-Ann fragte ihn, ob er hungrig sei.
Anawak bejahte auf Inuktitut. Sie entblößte ein lückenhaftes Gebiss, nahm den Hund, der an Anawaks Stiefeln schnupperte, und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Im Vorraum standen mehrere Paar Schuhe. Anawak streifte mechanisch seine Trekkingstiefel ab und stellte sie dazu.
»Deine gute Erziehung hast du jedenfalls nicht verlernt«, lachte sein Onkel. »Ein Quallunaaq bist du nicht geworden.«
Quallunaaq, Mehrzahl Quallunaat, war die Sammelbezeichnung für alle Nicht-Inuit. Anawak schaute an sich herab, zuckte die Achseln und folgte Mary-Ann in die Küche. Er sah einen modernen Elektroherd, elektrische Geräte, die es in jeder ordentlichen Küche in Vancouver auch gab, nichts, was ihn an den desolaten Zustand seines damaligen Zuhauses erinnert hätte. Unter dem Fenster stand ein runder Esstisch, daneben führte eine Tür auf den Balkon. Akesuk wechselte ein paar Worte mit seiner Frau und schob Anawak aus der Küche in einen behaglich eingerichteten Wohnraum. Schwere Polstermöbel gruppierten sich um einen Turm mit Fernseher, Videorecorder, Radio- und CB-Funkgerät. Eine offene Durchreiche wies zur Küche. Akesukzeigte ihm das Badezimmer mit der Toilette, den angrenzenden Waschmaschinenraum, den dahinter liegenden Vorratsraum, das Schlafzimmer und ein kleines Zimmer mit einem einzelnen Bett. Auf dem Nachttisch standen frische Blumen, Arktischer Mohn, Purpursteinbrech und Glockenheide.
»Mary-Ann hat sie gepflückt«, sagte Akesuk. Es klang wie eine Einladung, es sich bequem zu machen.
»Danke, ich ...« Anawak schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist besser, wenn ich im Hotel übernachte.«
Er hatte erwartet, dass sein Onkel verletzt reagieren würde, aber Akesuk sah ihn nur einige Sekunden sinnierend an.
»Ein Drink?«, fragte er.
»Ich trinke nicht.«
»Ich auch nicht. Wir trinken Fruchtsaft zum Essen. Willst du?«
»Ja. Gerne.«
Akesuk mischte in zwei Gläsern Saftkonzentrat mit Wasser, und sie gingen mit ihren Drinks auf den
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