Der Schwarm
nächtliches Zwielicht auf Cape Dorset und tauchte Häuser, Tundra, Schneeflächen und Meer in unwirkliches Rosagold. Es wurde nicht dunkel um diese Zeit, nur die Konturen erschienen weicher und die Farben sanfter.
Mit einem Mal wurde Anawak klar, wie schön es hier war.
Er schaute verzaubert auf diesen unglaublichen Himmel, ließ seinen Blick über die Berge schweifen und über die Bucht. Das Eis der Tellik Bay schimmerte wie ausgegossenes Silber. Schwarz und bucklig lag Mallikjuaq vor der Küste wie ein schlafender Wal.
Er sah weiter hinaus und trank von Zeit zu Zeit einen Schluck aus seiner Dose.
Was sollte er tun?
Er erinnerte sich seiner Gefühle vor wenigen Tagen, als er mit Shoemaker und Delaware zusammengesessen hatte. Wie fremd ihm plötzlich die Station geworden war, Tofino, alles. Wie überall ein Zimmer zu fehlen schien, um sich vor der Welt zurückzuziehen. Etwas Bedeutungsvolles hatte sich angekündigt, davon war er überzeugt gewesen. Voller Hochgefühl und Furcht hatte er darauf gewartet, als solle die Verheißung über ihn kommen.
Stattdessen war sein Vater gestorben.
War es das? Dieses Ereignis von Bedeutung? Dass er in die Arktis hatte zurückkehren müssen, um seinen Vater zu beerdigen?
Sicher, er stand vor größeren Herausforderungen. Vor einer der größten, denen sich die Menscheit je ausgesetzt gesehen hatte. Er und einige wenige. Das war an Bedeutsamkeit kaum noch zu überbieten. Aber es hatte nichts mit seinem Leben zu tun. Sein Leben vollzog sich in einem anderen Gefüge. Tsunamis, Methankatastrophen und Seuchen spielten darin keine Rolle. Sein Leben hatte sich mit einer Todesbotschaft in den Vordergrund gedrängt. Und erstmals, seit sie ihn erreicht hatte, begann Anawak zu ahnen, dass sich ihm hier in Nunavut die Chance bot, Tod in neues Leben umzuwandeln. Er selber war tot gewesen. Er musste neu geboren werden.
Nach einer Weile zog er sich an, streifte seine gefütterte Mütze über beide Ohren und ging hinaus in die erleuchtete Nacht. Niemand außer ihm war unterwegs. Eine gute Stunde lief er durch den Ort, bis er neue Müdigkeit kommen fühlte, weit schwerer und freundlicher als die Betäubung durch den laufenden Fernseher. Er kehrte zurück in die warme Lodge, warf seine Kleidung achtlos auf den Boden, rollte sich im Bett zusammen und war eingeschlafen, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte.
Am folgenden Morgen rief er Akesuk an.
»Hast du Lust, mit mir zu frühstücken?«, fragte er.
Sein Onkel schien überrascht.
»Mary-Ann und ich sitzen selber gerade beim Frühstück. Ich hatte nicht mit dir gerechnet.«
»Okay. Kein Problem.«
»Nein, warte mal ... Wir haben eben erst angefangen. Warum kommst du nicht vorbei und lässt dir eine ordentliche Portion Rührei mit Schinken schmecken?«
»Gut. Bis gleich.«
Die Portion, die Mary-Ann für ihn auftischte, war wirklich ordentlich zu nennen. Sie war so ordentlich, dass Anawak vom Hinschauen satt wurde, aber er langte tapfer zu. Mary-Ann strahlte übers ganze Gesicht. Er fragte sich, was Akesuk ihr erzählt hatte. Irgendeinen triftigen Grund musste er wohl erfunden haben, warum Anawak ihr Abendessen ausgeschlagen hatte. Verstimmt schien sie nicht zu sein.
Es war seltsam, diese Hand zu ergreifen, die Akesuk und seine Frau ihm reichten. Sie zog ihn zurück in die Familie. Anawak wusste noch nicht, ob ihm das gefiel. Der Zauber der Mondnacht war verflogen, und seinen inneren Frieden hatte er bei weitem nicht mit Nunavut gemacht. Er beschloss, sich vorsichtig auf alles Weitere einzulassen.
Nach dem Frühstück räumte Mary-Ann das Geschirr ab und empfahl sich zu Einkäufen in den Ort. Akesuk drehte an den Knöpfen eines Transistorradios, lauschte eine Minute und sagte:
»Das ist gut.«
»Was ist gut?«, fragte Anawak.
»IBC meldet gutes Wetter für die nächsten Tage. Man darf sie nicht zu sehr beim Wort nehmen, aber wenn nur die Hälfte davon stimmt, können wir aufs Land fahren.«
»Ihr wollt aufs Land?«
»Ja, für eine Weile. Morgen. Wenn dir danach ist, können wir heute was zusammen unternehmen. – Bei der Gelegenheit, was sind überhaupt deine Pläne? Oder willst du vorzeitig zurück nach Kanada?«
Der alte Fuchs hatte es geahnt.
Anawak verrührte umständlich Milch in seinem Kaffee.
»Ehrlich gesagt, gestern Abend stand ich kurz davor.«
»Das ist keine Überraschung«, konstatierte Akesuk trocken. »Und jetzt?«
Anawak zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht so recht. Ich dachte, vielleicht besuche ich
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