Der Schwarm
erreichen, wenn ihr versucht, gegen sie vorzugehen. Vernichtet sie, und ihr vernichtet euch selber. Begreift sie als Teil von euch, und ihr teilt dieselbe Welt. Der Kampf um die Herrschaft lässt sich nicht gewinnen.
Hier schwammen sie mit Delphinen, während Roscovitz und Browning ein Stück weiter das Deepflight reparierten, und erzählten einander alte Legenden von Geistern und Meeresgöttinnen. Lachend paddelten sie umher, und ganz allmählich, unmerklich, verloren ihre Körper die Wärme an das Meerwasser, trotz Temperierung und schützender Anzüge.
Wie sollten sie das Haar der Meeresgöttin kämmen?
Bis heute hatten die Menschen nur Toxide und Atommüll nach Sedna geworfen. Eine Ölpest nach der anderen verklebte ihr Haar. Ohne zu fragen, hatten sie ihre Tiere gejagt und viele davon ausgerottet.
Anawak spürte sein Herz klopfen im eisigen Wasser. Ihn fröstelte. Etwas sagte ihm, dass dieser Moment des Glücks von kurzer Dauer sein würde. Er hatte seinen Frieden mit so vielem gemacht, hatte Freunde gewonnen, fühlte sich befreit vom Ballast falsch verstandenen Daseins.
Dumpf überkam ihn die Ahnung, dass soeben etwas zu Ende ging. Nie wieder würden sie so zusammenkommen.
Greywolf überprüfte den Sitz des Geschirrs am sechsten und letzten Tier der Staffel und nickte befriedigt.
»In Ordnung«, sagte er. »Lassen wir sie raus.«
Hochsicherheitslabor
»Ich blöde Kuh. Ich muss blind gewesen sein!«
Oliviera starrte den Bildschirm an, auf dessen Oberfläche das Fluoreszenzmikroskop die Vergrößerung der Probe übertrug. In Nanaimo hatte sie die Gallerte mehrfach untersucht, beziehungsweise das, wasdavon übrig geblieben war, nachdem sie das Zeug aus den Hirnen der Wale gepult hatten. Auch den Fetzen, der nach dem Tauchgang unter der Barrier Queen an Anawaks Messer hängen geblieben war, hatte sie unter die Lupe genommen. Aber nie wäre sie auf die Idee gekommen, von einer zerfallenden Substanz auf einen Zusammenschluss aus Einzellern zu folgern.
Es war geradezu peinlich!
Dabei hätte sie es längst schon wissen können. Aber in der Pfiesteria-Hysterie hatten alle nur noch Killeralgen vor Augen gehabt. Selbst Roche war entgangen, dass die zerflossene gallertige Substanz gar nicht verschwunden, sondern auf dem Objektträger seines Mikroskops zu sehen gewesen war, die ganze Zeit über, in Gestalt einzelliger, toter oder sterbender Organismen. Im Innern der Hummer und Krabben war bereits alles vertreten gewesen, und alles hatte sich miteinander gemischt, Killeralgen, Gallerte – und Meerwasser.
Meerwasser!
Vielleicht wäre Roche der fremdartigen Substanz auf die Schliche gekommen, hätte nicht ein einziger Tropfen davon Universen an Lebensformen beherbergt. Jahrhundertelang hatte man vor lauter Fischen, Säugern und Crustaceen 99 Prozent des marinen Lebens schlicht übersehen. In Wahrheit beherrschten nicht Haie, Wale und Riesenkraken die Ozeane, sondern Heerscharen mikroskopischer Winzlinge. In einem einzigen Liter Oberflächenwasser wuselten Dutzende Milliarden Viren, eine Milliarde Bakterien, fünf Millionen tierische Einzeller und eine Million Algen bunt durcheinander. Selbst Wasserproben aus der lichtlosen und lebensfeindlichen Tiefe jenseits 6000 Meter förderten noch Millionen Viren und Bakterien zutage. In dem Getümmel die Übersicht zu behalten, war so gut wie aussichtslos. Je tiefer die Forschung vordrang in den Kosmos des Allerkleinsten, desto unüberschaubarer bot er sich dar. Meerwasser? Was sollte das sein? Ein genauer Blick durch ein modernes Fluoreszenzmikroskop legte den Schluss nahe, es eher mit einer Art dünnem Gel zu tun zu haben. Wie Hängebrücken durchzog ein Flechtwerk untereinander verknüpfter Makromoleküle jeden Tropfen. Zwischen Bündeln transparenter Fäden, Häutchen und Filme fanden unzählige Bakterien ihre ökologische Nische. Um zwei Kilometer ausgespannter DNS-Moleküle, 310 Kilometer Proteine und 5600 Kilometer Polysaccharide zu messen, brauchte man eben mal einen Milliliter. Und irgendwo dazwischen verbargen sich die Mitglieder einer möglicherweise intelligenten Lebensform. Sie verbargen sich, indem sie sich offen präsentierten als Allerweltsmikroben. Sobizarr sich die Gallerte ausnahm, bestand sie keineswegs aus exotischen Lebewesen, sondern aus hundsordinären Tiefseeamöben.
Oliviera stöhnte auf.
Es lag offen zutage, warum Roche nichts begriffen hatte, sie selber nicht, keiner der Leute, die das Wasser aus dem Trockendock analysiert hatten.
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